Wie geht es einem fremden Menschen in Deutschland? Wie ging es mir vor 24 Jahren?

Ein toter Vogel auf der Straße…im September 1991.

Im Dezember 2008 fuhr ich mit meinem Wagen rechts auf die Wasserburgallee. Auf meinem Weg lag ein überfahrener Vogel. Automatisch lenkte ich das Auto an ihm vorbei.
- Ich erinnere mich… Auf meinem Nachhauseweg lag damals ein toter Vogel. Wann war es denn? Ja, es war von 17 Jahren.
Am 3. April 1991 kamen mein Mann und ich nach Deutschland. Unser neuer Wohnort hieß Kleve. Meine Cousine empfing uns, zeigte, wo das Arbeitsamt, Rathaus und Sozialamt sind.
Uns wurde eine Bleibe zugewiesen: ein ehemaliger Kindergarten auf dem Köstersweg in Kellen. Der Raum war riesig mit sehr großen Fenstern ohne Gardinen. In einer der Ecken stand ein Bett, das verloren und einsam wirkte, wie wir. Nachts weinte ich leise, dass mein Mann es nicht hören sollte, weil er ganz in sich gekehrt war. Nur der Mond schaute mir durch die großen Fenster gleichgültig zu.
Kurze Zeit später hat das Arbeitsamt uns zum Deutschkurs geschickt, der im Stadtzentrum durchgeführt wurde. Die Lehrerin verbot uns russisch zu sprechen, wir sollten nur Deutsch sprechen.
Wir alle, die an diesem Kurs teilnahmen, sind in eine andere Welt gelandet. 40 Jahre habe ich in einem anderen Land gelebt, wo es andere Werte gab, wo zu Hause die Welt in Ordnung war und draußen man aufpassen musste. Vieles wurde von mir dankbar aufgenommen und gegen einiges gab es einen innerlichen Widerstand. Das erlebte in Russland und das, was auf uns in Deutschland zukam, passte nicht zueinander.
Wie komme ich mit dem, was ich kann und dem, was ich wertschätze, hier zu Recht? Wie auch alle anderen, musste ich viel nachdenken und jemanden haben, mit dem ich es besprechen könnte. Und das ist an der ersten Stelle derjenige, der aus dem gleichen Herkunftsland kommt und die gleiche Sprache spricht. Wie kann man bei Ankunft in einem anderen Land in einer noch viel zu armen Sprache erklären, was Freude im Heimatland machte. Wie kann man (jetzt kann ich es) erzählen, wie der blaue Himmel sich in einem kleinen See spiegelte und wie die sattgrüne Wiese duftete und welch eine tiefgründige Seelenbewegung ich verspürte nur weil eine kleine Ameise den Weg zurück zur Familie suchte (die ich von oben schon gesehen habe) und endlich fand!
Zu Hause, in einem deutschen Dorf in Kasachstan sprachen wir anders deutsch, mit Dialekt. Wenn wir in Kleve in den Geschäften, auf den Ämtern, in Arztpraxen in Kleve mit Dialekt sprachen, verstanden uns die wenigen Menschen, die sehr herzlich zu uns waren.
- Bei der Unterhaltung mit einigen Menschen, die uns nicht verstanden und dazu auch hoch belehrend wirkten, kam der quälende Gedanke: vielleicht wollen sie uns gar nicht verstehen?
Die vielen überwältigende Gefühle, Verletzlichkeit, weil etwas völlig verkehrt verstanden wurde. Nein, man kann nicht sofort alles verstehen, verarbeiten und sich in ein System einordnen, das fremd ist.
Als wir eine Wohnung in Materborn am Friedhof bezogen, kauften wir für uns zwei grüne holländische Fahrräder. Es regnete oft. Bis wir um 8.00 Uhr zum Sprachkurs angeradelt kamen, waren wir klitsch nass, bis zum Ende des Unterrichts waren unsere Sachen an uns getrocknet. Um 16.00 Uhr fuhren wir nach Hause wieder in den Regen. Zu Hause sog der steinkalte Fußboden die noch vorhandene Wärme aus dem Körper, auf der Heizung qualmten unsere Sachen. Wir machten uns einen heißen Tee.

Eines Tages fuhr ich alleine zum Sprachkurs (mein Mann hatte mit seinem Fahrrad einen Zusammenstoß mit einem Auto, er befand sich im Krankenhaus).
- Auf dem Nachhauseweg sah ich einen überfahrenen Vogel. Durch meinen Kopf blitze ein Gedanke: man sollte den Vogel beiseite tun, aber das Fahrrad hat ja Räder und sie drehen sich, wenn man die Pedalen drückt. Das Fahrrad fuhr weiter.
Am zweiten Tag blieb vom Vogel fast nichts über, am dritten wehte der Wind nur einige Feder.
- Ich habe plötzlich verstanden: wenn du nicht aufpasst, dann bleibst du auf der Strecke, so wie dieser Vogel.
- Wie oft fühlte ich mich bis daher, wie ins kalte Wasser ohne Ufer geworfen zu sein, jetzt aber habe ich mich entschieden: ich suche meinen Weg selber!

Julia Weber im Dezember 2008
Dank vieler Menschen suchte ich meinen Weg... Die Dankbarkeit ist immer präsent! Wollen Sie wissen, wie und ob ich den Weg gefunden habe?

Autor:

Julia Weber aus Kleve

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