Buch der Woche: Der rettende Schuss

Javier Cercas’ Roman „Outlaws“

Spätestens mit seinem Roman „Anatomie eines Augenblicks“, den die wichtigste spanische Tageszeitung „El Pais“ 2009 zum Buch des Jahres kürte, hat der 52-jährige Javier Cercas auch außerhalb Spaniens den Durchbruch geschafft. Als „grandios“ hatte der bekannte argentinische Autor Albert Manguel diesen, auch mit dem Premio Nacional de Narrativa ausgezeichneten Roman gerühmt, der um den gescheiterten Militärputsch des Jahres 1981 kreist.

In der unmittelbaren Nach-Franco-Epoche ist auch Cercas neuer Roman angesiedelt, in dessen Mittelpunkt eine kriminelle Jugendgang steht. Wir bewegen uns im Jahr 1978 in der katalanischen Stadt Girona, in der Autor Cercas aufgewachsen ist und heute noch als Professor für spanische Literatur lehrt. Dies merkt man auch der formalen Umsetzung seines „Stoffes“ an. (Akademisch) Hoch ambitioniert arbeitet Cercas mit einer „Buch-im-Roman“-Konstruktion. Der Roman berichtet über das Entstehen eines Buches über einen jugendlichen Straftäter. In Form von Interviews geben Weggefährten einem weitgehend „stummen“ Sachbuchautor ihre unterschiedlichen Erinnerungen preis, so entsteht ein doppeltes Spiel mit Realität und Fiktion. Aussage steht quasi gegen Aussage, eine intendierte konstruierte Unschärfe begleitet den Leser durch die gesamte Handlung.
Im Zentrum stehen die beiden 16-jährigen Jugendlichen Ignacio Cañas und Antonio Gamallo (genannt „El Zarco“), die unterschiedlicher kaum sein können und sich zufällig in einem Spielsalon begegnen. Ignacio wächst als Sohn eines Beamten wohlbehütet auf, während El Zarco am Stadtrand in einer Behelfsunterkunft "unter dem Abschaum des Abschaums" lebt. Krasse Gegensätze prallen aufeinander: Auf der einen Seite der schüchterne, in seiner Schule oft als „Brillenschlange“ schikanierte Ignacio, ihm gegenüber steht El Zarco das Alphatier in einer Quinqui-Gang. Einzige Gemeinsamkeit ist ihr Außenseitertum. Ignacio fühlt sich als „Charnego“ ausgestoßen, als Spross einer aus der Extremadura nach Katalonien eingewanderten Familie, und El Zarco lebt als Anführer der „Quinqui“ (eine umgangssprachliche Bezeichnung für jugendliche Kriminelle) ohnehin an der Peripherie der Gesellschaft. An Zarcos Seite bewegt sich stets die aufreizend gezeichnete „Tere“, die den schüchternen Beamtensohn gleich bei der ersten Begegnung auf der Toilette verführt.
Als der stille Ignacio, der in den Schulferien in einem Spielsalon aushilft, „El Zarco“ und „Tere“ von den Einnahmen, den Öffnungszeiten und den Gewohnheiten des Inhabers berichtet, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ignacio driftet mehr und mehr ab in die Sphäre der Halbwelt, er beginnt zu kiffen, tummelt sich im Rotlichtmilieu und nimmt an Überfällen, Einbrüchen und anderen Straftaten teil. Nach einem spektakulären Banküberfall entzweien sich dann die Wege wieder ziemlich abrupt. El Zarco wandert ins Gefängnis, und dem angeschossenen Ignacio gelingt es, sich zu seinen Eltern durchzukämpfen und auf die Pfade der Tugend zurückzukehren. Der Schuss war nicht nur eine schmerzhafte Erfahrung, sondern auch eine Art Rettung aus dem kriminellen Quinqui-Milieu.

Anwalt wird schwach
Der zweite Teil des opulenten Erzählwerks ist dann in der Zeit kurz vor der Jahrtausendwende angesiedelt und berichtet über das erneute Aufeinandertreffen. Ignacio hat sich inzwischen als Anwalt etabliert, El Zarco hat eine lange „Gefängniskarriere“ mit mehreren spektakulären Ausbrüche hinter sich und ist durch die Medien eine landesweit bekannte Person geworden. Als reales Vorbild fungierte offenkundig ein „El Vaquilla“ genannter Quinqui. Bis hierher folgt man diesem mit sparsamen sprachlichen Mitteln erzählten Roman bereitwillig und höchst gebannt. Den häufigen Grenzüberschreitungen der Jugendlichen (der Originaltitel des Romans lautet treffend "Las leyes de la frontera", dt: Die Gesetze der Grenze) in der Phase der noch instabilen Demokratie haftet ein leicht mythisch verklärender Freiheitsodem an.
Zum Schluss dieses auch als zeitgeschichtliches (semifiktives) Panorama relevanten Romans wird es leider arg kitschig. Teresa, Zarcos einstige Weggefährtin, taucht in der repräsentativen Kanzlei auf, wird Ignacios Geliebte, und gemeinsam wollen sie für Zarcos Freiheit kämpfen. Schade, aber manchmal wäre weniger mehr gewesen.

Javier Cercas: Outlaws. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014, 507 Seiten, 24,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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