Buch der Woche: Ich bin eine ganz andere

Judith Hermanns erster Roman „Aller Liebe Anfang“

Vor 16 Jahren hatte sie mit ihren Debüterzählungen „Sommerhaus, später“ gleich einen grandiosen Erfolg gefeiert. Mehr als 300 000mal war das Buch verkauft worden, und der Name Judith Hermann wurde stets in einem Atemzug mit dem Phänomen „Fräuleinwunder“ genannt. Als „Stimme ihrer Generation“ wurde die Berlinerin gefeiert und ihren Texten ein „unwiderstehlicher Sog“ attestiert.

Judith Hermann hat sich dem damals entstandenen Medienhype um ihre Person (so gut es ging) widersetzt und hat sich viel Zeit gelassen bei ihrer weiteren literarischen Arbeit. Seit ihrem Erfolgserstling hat sie lediglich noch zwei weitere schmale Bände mit Erzählungen veröffentlicht - „Nichts als Gespenster“ (2003) und „Alice“ (2009).
Nun hat die inzwischen 44-jährige Autorin ihren ersten, mit großer Spannung erwarteten Roman „Aller Liebe Anfang“ vorgelegt. Ein völlig unspektakuläres Werk, alles andere als ein Liebesroman, wie es der Titel vielleicht vermuten lässt, sondern eine längere Erzählung über eine Frau mittleren Alters, die eine Zwischenbilanz zieht.
Die Protagonistin Stella ist (wie die Autorin) Anfang 40, lebt mit ihrem Mann Jason und der kleinen Tochter Ava in einer Reihenhaussiedlung am Rande einer namenlosen Stadt. Sie arbeitet im ambulanten Pflegedienst und ist während der Woche oftmals allein, da ihr Mann als Fliesenleger beruflich viel unterwegs ist. Ein eher langweiliges Dasein, bis sich eines Tages ein „Mister Pfister“ genannter Stalker aus der Nachbarschaft in Stellas Leben einschleicht.

Der Wohnzimmersessel als Bühne
Judith Hermann versteht es glänzend, diese bedrückende Atmosphäre zu beschreiben, den drohenden Verlust der Privatsphäre und die daraus resultierende emotionale Gemengelage zwischen Angst und Trotz. Alle Eigenheime der Siedlung sehen mit ihren üppigen Glasfronten aus wie Schaufenster und der Wohnzimmersessel „wird zur Bühne“, die Siedlung zur "Ausstellung von Privatem".
Der Fremde klingelt an der Haustür, will mit ihr sprechen, bleibt hartnäckig, als er abgewiesen wird und hinterlässt Nachrichten im Briefkasten. Stella braucht geraume Zeit, ehe sie sich aufrafft und die Polizei einschaltet.
Judith Hermann hat ihren leicht melancholischen Ton aus dem letzten Band „Alice“, in dem der Tod eine zentrale Rolle spielte, wieder aufgenommen und konsequent weiter geführt. Ihre Beschreibungen zeugen bisweilen von übertriebener Affinität zu den nebensächlichsten Details, sie spielt dabei mit Wiederholungen und reiht kurze stakkatohafte Sätze aneinander. Der einst gepriesene „Hermann-Sound“ wirkt nun auf der längeren Erzählstrecke leicht ermüdend.
Judith Hermann geht es primär um die psychische Befindlichkeit des Opfers Stella, ihren ständigen Wechsel zwischen Angst und Grübelei, Ignoranz und Aggression. Die Handlung kippt etwas, als die weibliche Hauptfigur mit den gleichen Waffen zurück schlägt und ihrerseits beginnt, den Nachbarn auszuspionieren – vermutlich inspiriert von der Alltagsweisheit, nach der Angriff die beste Verteidigung sein soll. Und irgendwann sammelt sie ihren ganzen Mut und stellt „Mister Pfister“ zur Rede: "Ich bin nicht die, für die du mich hältst. Ich bin eine ganz andere."

Nähe und Distanz
Dieser Satz scheint deutlich mehr als „nur“ die Beschreibung der Stalking-Rolle zu implizieren. Er drückt offenkundig auch den Wunsch nach Veränderung aus, nach einem Ausbruch aus den auferlegten Rollenzwängen. Eine ganz andere Form der bedrückenden (beinahe intimen) Nähe, des nicht ganz freiwilligen Aneinanderklebens erlebt Stella täglich in ihrem Beruf im Umgang mit dem schwerkranken, bettlägerigen Walter, der mit Mitte Fünfzig keine Aussicht mehr auf Gesundung hat.
In Judith Hermanns Roman dreht sich hinter dem Stalking-Motiv alles um Nähe und Distanz, um beängstigende Enge und latenten Freiheitsdrang. In einem Brief an ihre Freundin Clara schreibt Stella: „Wie weit ist dieses Leben entfernt von dem Leben, das wir uns vor zehn Jahren vorgestellt haben.“ So ist „Aller Liebe Anfang“ am Ende nicht mehr und nicht weniger als ein handwerklich grundsolide inszenierter, aber unprätentiöser Roman über eine handfeste Midlife-Crisis. Hätte nicht Judith Hermann dieses Büchlein geschrieben, hätte wohl niemand davon Notiz genommen.

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014, 219 Seiten, 19,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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