Was ist eigentlich… Kultur?

Persönlicher Rückblick einer Autorin auf ein Kulturhauptstadt-Jahr.

August 2009: mein erstes Buch erscheint nachdem das Manuskript spontan hervorragende Rezensionen erhielt. Prima! Lebe ich doch schließlich mitten in der Kulturhauptstadt 2010. Das passt – dachte ich – und erwartete tatsächlich literarische Veranstaltungen, auf denen die zahlreichen heimischen Autoren mehr oder weniger spektakulär sich und ihre Werke vorstellen könnten…

Die Vorbereitungen fürs Kulturhauptstadt-Jahr liefen überall mit Volldampf. Da wurden dicke Kataloge verkauft – mit einer unüberschaubaren Zahl an Kultur-Events. Nun ja, einen Katalog kaufen wollt ich nicht – lebe doch schließlich mittendrin und dann gibt’s doch noch die lokalen Medien und das Internet…

Also mal fleißig drauf los gegooglet: Literatur, Ruhrgebiet, Lesung, Autoren, Veranstaltung, Kulturhauptstadt, Ruhr 2010 etc. etc. – Stichworte, die eben irgendwie dazu gehören. Wie es sich gehört, fanden sich Suchergebnisse in 6- oder 7-stelliger Zahl. Also öffnen, lesen, öffnen, lesen, öffnen, lesen…

Einige Ruhrgebiets-Seiten boten unter dem Stichpunkt ‚Kultur’ den Begriff ‚Literatur’ gar nicht erst an. Soso…

Aber natürlich waren auch literarische Termine vorgesehen – Themen: „heimisch und fremd, Daheimbleiber und Migranten in verschiedenen Regionen Europas…“ vorgetragen von Autoren aus ganz Europa. Aha! Nicht mein Thema, also: weiter suchen! Wo gibt’s denn so etwas wie Krimis, Liebesromane, Biografien aus dem Revier – ganz ‚normale’ Bücher eben…

Fundstück: Buchmesse RUHR 2010. Sicher bin ich hier richtig, oder? „...Deutsch-Türkische Buchmesse und Literaturfestival: Romanciers, Krimiautoren, Lyriker, Philosophen - alle mit Türkeibezug.“ Viele Namen der genannten Autoren kann ich nicht einmal aussprechen…

Des Weiteren stieß ich auf einen an deutsch schreibende Autoren, deren Muttersprache oder kulturelle Herkunft nicht die deutsche ist, verliehenen Preis, auf literarische Wettbewerbe mit den Themen Integration, Migration, Multi-Kulti…

Ähem, nun ja, *stotter* sorry! Ich bin einfach nur deutsch – ist mir das peinlich…

Als Nächstes: Vorsprechen beim namhaften örtlichen Buchhandel: Nein, dort könne ich mein Buch nicht vorstellen. Ganz unabhängig von der Qualität meines Buches, die man keinesfalls in Frage stelle, sei es völlig uninteressant, ja geradezu störend, auch nur Werbung dafür auszulegen. Am Ende wolle noch ein Kunde dieses Buch erwerben. Nicht auszudenken. Das mache ja nur Arbeit, erzeuge Verwaltungsaufwand. Kommt nicht in Frage. Der Ortsbezug? Keine Bedeutung! Kommisionsware? Auf gar keinen Fall.
Wenn ich allerdings genügend Geld aufbrächte, mich in einen namhaften Verlag einzukaufen und in meine Kalkulation den Großhandel mit einzubeziehen, dann sei die Situation eine ganz andere… Ein Blick ins Portemonnaie: Upps! Fünfstellige Summen hab ich grad nicht dabei…

Okay, vielleicht liegt’s ja an mir – dachte ich – und fragte per Email mal beim örtlichen Kulturbüro nach: Bitte, wann, wie, wo können denn heimische Autoren…? Keine Antwort. Zahlreiche Anfragen direkt an Veranstalter kleinerer literarischer Events, darunter auch die Zentralbibliothek, Uni Duisburg-Essen und das Bistum Essen blieben ebenfalls ohne Rückäußerung.
Gut, also eine Email an das Literaturbüro Ruhrgebiet. Das liegt nicht in der Großstadt Essen, sondern in Gladbeck: Bitte, wann, wie, wo können denn heimische Autoren…? Die freundliche Antwort: „Da können wir nichts anbieten. Versuchen Sie es doch erst mal direkt vor Ihrer Haustür. Viel Erfolg!“

Ja, vielen Dank, das habe ich bereits. Aber in meinem Buch geht es nicht um Multi-Kulti, nicht um Migration, nicht um viele europäische Aspekte – in meinem Buch geht es um eine authentische Geschichte, die in Essen spielt, in Essen geschrieben wurde – und die ich in Essen vorstellen möchte, in Essen, in der Kulturhauptstadt 2010…

In meinem Buch geht es um Mobbing – einem Thema, das allein in Deutschland jährlich etwa 1,5 Millionen Menschen betrifft – aber, pardon, es waren wirklich nur Deutsche beteiligt…
Ohne Begriffe wie Migration, Integration, Multi-Kulti und europäische Vielfalt ist dieses Buch offenbar kein Kulturgut. Vielleicht hätte mich mal jemand informieren können, dass ich irgendwelche ausländischen Mitbürger in die authentische Darstellung hinein lügen muss, damit ich in der Kulturhauptstadt 2010 eine Gelegenheit bekomme, mich und mein Buch im Kreise zahlreicher heimischer Autoren vorzustellen…

Januar 2011: Das Kulturhauptstadt-Jahr ist gelaufen. Zwei, drei kleinere Buchläden vor Ort zeigten sich aufgeschlossen, ebenso wie die Überruhrer Bürgerschaft, die im Zuge ihrer Kulturwoche auch ‚normale’ Bücher zuließ. Erfreulicherweise besitzen andere Regionen Deutschlands offenbar nicht so viel Kultur, so dass ich auch dort mit meinem Buch nicht gegen Wände lief und tatsächlich die erste Auflage veräußern konnte…

Bei meiner intensiven Recherche nach interessanten Kultur-Events stieß ich unter anderem auf den „Sing day of song“, an dem ich gern als Kanutin teilgenommen hätte, der jedoch für die Paddler der Region abgesagt wurde – dem Vernehmen nach, weil irgendwelche Schleuser keine Lust hatten, Kanus zu schleusen…
Dafür traf ich bei meinen zahlreichen Paddeltouren aber auf das Ruhr-Atoll auf dem Baldeneysee: unzählige Tretboote auf dem Wasser, um die man als ortsansässiger Kanute ja gekonnt ein Slalom paddeln kann, zwischen einem U-Boot, einem Eisberg, einem ‚Schrottplatz’ zur Energiegewinnung und einer schwimmenden Tee-Plantage mit dem ständigen (?) Hinweis ‚defekt’… - alles typisch Ruhrgebiet eben!
Was – unabhängig von den einzelnen persönlichen Erlebnissen der Teilnehmer – eine Fressmeile auf einer gesperrten Autobahn mit Ruhrgebiets-Kultur zu tun hat, habe ich auch noch nicht verstanden, ebenso wie die Notwendigkeit, das ganze Stadtgebiet mit Baustellen zu pflastern…

Aber – nichts für ungut – es gab ja auch noch Veranstaltungen wie zum Beispiel ‚Schachtzeichen’ oder das kollektive Singen des Steigerliedes – kulturelle Dinge, die tatsächlich mit dem Ruhrgebiet in einem direkten Zusammenhang stehen. Siehste? Geht doch!

Mein Fazit: Was ist eigentlich Kultur? Offenbar etwas, das dem politisch gewollten Bild zu entsprechen hat und in einem sehr direkten Zusammenhang mit großen Summen Geldes steht, dem Literatur jedoch nur bedingt zugeordnet werden kann. Ich glaube, diesen Begriff sollte ich nochmal irgendwo nachschlagen...

Autor:

Ilia Faye aus Essen-Ruhr

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