"Kennametal Widia lässt uns ausbluten"

Fotos: privat
6Bilder

„Gesellschaftlicher Skandal!“ – Kennametal Widia Essen stellt erstmalig keine Lehrlinge ein!

14 Uhr, Schichtwechsel beim Essener Werkzeughersteller Kennametal Widia, Harkortstraße. Pressekonferenz – kurzfristig einberufen. Und die Information trifft wie ein Boxhieb in die Magengrube. „Wir haben einen ungewöhnlichen Schritt gewählt, um an die Öffentlichkeit zu gehen. Obwohl der personelle Bedarf da ist und 10 Azubis für 2014 geplant waren, will der Konzern plötzlich in diesem Jahr keine Azubis einstellen“, sagt sichtlich verärgert Wolfgang Freye, Betriebsratsvorsitzender Kennametal Widia Essen.

Das muss man erst mal sacken lassen. Wolfgang Freye verdeutlicht: „Gesellschaftspolitisch halten wir die Entscheidung für einen Skandal! Der Konzern, der Wert darauf legt, ‚die besten Mitarbeiter‘ zu haben, will dazu in Essen nichts mehr beisteuern. Und das in der Hartmetall-Branche, im zweitgrößten Werk des Kennametal-Konzerns in Europa, mit 550 Beschäftigen.“

Hintergrund: Bis auf das Krisenjahr 2009 wurden in Essen jedes Jahr 5 bis 7 Auszubildende eingestellt; in Metall-Facharbeiterberufen ausgebildet wie Industriemechaniker, Fachrichtungen Schleiftechnik, Schlosser, Elektroniker, Produktdesignerin. 20 Azubis sind zur Zeit in der Ausbildung, fünf davon lernen im Januar 2015 aus.

Das Kuriose:
Noch im Herbst wurde dem Betriebsrat mitgeteilt, dass zum1. September 2014 zehn Lehrlinge eingestellt werden sollen, darunter auch in einem bisher nicht ausgebildeten Beruf wie Physikanten. Alle wurden ausdrücklich als Bedarfs-Azubis bezeichnet. „Aus über 360 Bewerbern wurde schon eine Vorauswahl getroffen, es wurden Gespräche geführt. 30 Personen standen in der engeren Wahl“, so Freye. „Die warten jetzt verzweifelt, werden hingehalten…“

Freye führt Fakten an: „Bis 2019 werden 46 Beschäftigte im Werk Essen ausscheiden. Mehr als die Hälfte davon sind Facharbeiter, Techniker… Einige davon sind sogar jetzt schon in Altersteilzeit. Bei dreieinhalb Jahren Ausbildung würden die Azubis, die in diesem Jahr eingestellt würden, erst Anfang 2018 fertig. Das bedeutet, die anscheinend inzwischen endgültig gefällte Entscheidung, in diesem Jahr keine Azubis in Essen einzustellen, reißt eine gefährliche Lücke im Personalbedarf. Sie schädigt elementar die künftige Entwicklung des Werkes.“

Spar-Maßnahmen-Gründe?
„Die Kostensituation im Werk sei zu teuer sowie - im Ruhrgebiet findet man noch genug Facharbeiter auf dem Arbeitsmarkt… Wir können diese Argumente nicht nachvollziehen. Erfahrung der letzten Monate: Selbst Leiharbeiter mit Fachausbildung sind kaum noch zu kriegen. Wir hoffen, dass wir noch was bewirken können bei der Konzernleitung. In Maschinen wurde im Werk Essen in den letzten Jahren viel investiert. Um zukunftsfähig zu sein, müssen aber auch Investitionen in die Menschen getätigt werden!“

Beipflichtung von Alfons Rüther, IG Metall Essen. Der Gewerkschaftssekretär führt schwerwiegende Gründe für die Ausbildung in Essen an, da in allen anderen Kennametal-Werken in Deutschland in diesem Jahr ausgebildet wird.
Stichwort Zukunft! „ Das Bundesministerium für Bildung errechnete, dass eine Ausbildungsquote von 5 % notwendig ist, um ausreichend Nachwuchs für ausscheidende Fachkräfte im Unternehmen zu sichern. Sinkt die Ausbildungsquote darunter, sei in der Regel der notwendige Nachwuchs aus eigener Ausbildung nicht mehr vorhanden. Die Geschäftsführung der Widia wird Nachwuchssorgen bekommen, somit den Standort Essen in Personalnöte führen.“

Stichwort Verantwortung! „NRW Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und NRW Arbeitsminister Guntram Schneider mahnten im Ausbildungskonsens NRW bereits an, ausreichend Fachkräfte auszubilden! Noch sind die Betriebe in NRW von einer flächendeckenden Anzahl an Ausbildungsplätzen weit entfernt. Allein in Essen gibt es eine Lücke von fast 500 Ausbildungsplätzen! Gemessen zur Anzahl von Lehrstellenbewerbern fehlen 500 Ausbildungsstellen.“

Michael Mehles, 57, Facharbeiter, verdeutlicht: „Ein Spezialauftrag aus China wird gerade bei uns bearbeitet. Wir sind nur noch mit fünf Leuten im manuellen Bereichsgebiet – Spezial-Fahrzeuge, Dampfturbinen – tätig. Davon sind vier Mitarbeiter bereits über 50 Jahre alt. Unsere Angst, wenn wir Ausscheiden, ist das Fachwissen futsch.“

Ein 60-jähriger Schlosser befürchtet, „dass das Essener Werk „verschlanken“ will; versucht wird, die Stundenlöhne zu reduzieren.“

Andreas Recktenwald, 51, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, hat Sorge, „dass es keine Zukunft in Essen auf lange Sicht gibt. Angst grassiert. Wenn schon an den Auszubildenden gespart wird – wo soll die Reise hingehen? Der Firma geht’s gut. Keine Kurzarbeit. Vollbeschäftigung. Trotz allem – es ist ein amerikanisches Unternehmen. Von der alten Krupp-Tradition - wie Ethik, gesellschaftliche Verantwortung - sind wir meilenweit entfernt; hört abrupt beim Geld auf.“

Rudi Lehmann, freigestellter Betriebsrat: „Wir wollen jetzt gucken, wie die Geschäftsleitung nach der Veröffentlichung reagiert. Wir werden uns schwer tun, Überstunden zu genehmigen, wenn „der Kopf“ sich nicht bewegt. Letztes Wochenende sind bereits circa 50 Leute nicht gekommen, die sonst regelmäßig samstags 6 bis 8 Stunden mehr leisteten. Abgelehnt! Diese Schiene werden wir weiter verfolgen…“

Firmengeschichte
Widia war bis 1996 ein Unternehmen des Krupp-Konzerns und wurde damals an einen amerikanischen Konzern verkauft.
2002 kaufte der Kennametal-Konzern die Widia GmbH. Kennametal hat weltweit circa 13000 Beschäftigte, in Deutschland 3600. Im Werk Essen 550, das nach dem Werk Ebermannstadt (Fränkische Schweiz) das zweitgrößte europäische Werk von Kennametal ist.

Autor:

Ingrid Schattberg aus Essen-West

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

39 folgen diesem Profil

4 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.