Früh am Morgen

Sie stand mit verschränkten Armen am offenen Fenster. In der einen Hand eine Tasse dampfenden Tee, und die andere unter die Schulter geklemmt, gegen die kalte Morgenluft. Sie war so rein und klar, und half ihr, ihre Gedanken für den Tag zu ordnen.
Noch trug sie Nachthemd und Morgenmantel, und überlegte, was sie mit diesem Tag anfangen sollte. Sie war seit vielen Jahren alleine. Ihr Mann hatte sein trügerisches, neues Glück gesucht, und es bitter bereut. Als er zurück wollte, hatte sie NEIN gesagt. Manchmal zweifelte sie, ob das richtig war. Manchmal, an Tagen wie diesen, wenn sie sich alleine fühlte. Doch immer schüttelte sie den Gedanken wieder ab, und fühlte sich dann erleichtert. Es war keine Partnerschaft gewesen, die letzten Jahre. Sie hatte es deutlich gefühlt. Nun war sie frei, aber was tun mit ihrer Freiheit?
Die Tochter lebte in Australien. Alle 2 Jahre flog sie hin, aber die Sehnsucht war immer da.

Sie beschloss einkaufen zu gehen.
Es war leer um diese Zeit. Nur ein paar Leute, die sich auf dem Weg zur Arbeit schnell einen Imbiss kauften, und ein paar Frühaufsteher wie sie. Sie liess sich Zeit, drehte und wendete, drückte und beroch, fühlte und probierte die einzelnen Waren. Nur um die Fleischtheke machte sie einen grossen Bogen. Sie landete beim Fisch, kaufte geräucherten Heilbutt, Pfeffermakrele und eine ganze Makrele, und war im Kopf schon bei den anderen Waren. Frisches Brot dazu, und Salat wäre gut , dachte sie, während sie ihr riesiges Paket entgegennahm. Sie hatte mit dem Gewicht nicht gerechnet, und so fiel es ihr aus der Hand. Schnell bückte sie sich, und dann knallte es in ihrem Kopf.
Neben ihr hatte ein Mann gestanden, der sich gleichzeitig mit ihr bückte, um ihr das Paket zu reichen. Und sein Kopf prallte gegen ihren. Beide erhoben sich wieder und sahen sich überrascht an, während sie ihre Stirn rieben. Sie verhaspelten sich, beim gegenseitigen Versuch, sich zu entschuldigen, und dann lachten sie, und lachten, und lachten. Alle Leute im Laden schauten zu ihnen. Manche stirnrunzelnd, andere schmunzelnd, und wieder andere lachten mit.
Gähnen ist ansteckend, sagt man, Lachen aber auch, und so lachten bald fast alle.

Der Mann bot ihr den Arm dar, und sie hakte ein, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Er nahm das Fischpaket, griff noch ein Baguette aus dem Selbstbackautomaten und einen Riesling aus einem anderen Regal. Ihre Einkaufswagen blieben einfach stehen, wo sie standen, und er zog die Frau leicht aber bestimmt, zur Kasse, er bezahlte und dann standen sie draussen.
Ihr kam es so unwirklich vor, was grade geschehen war, das sie den Arm unter dem seinen weg zog, und erstmal tief durchatmete.
„Und nun?“ : presste sie, nun voller Verlegenheit darüber, das sie sich so hatte mitziehen lassen, heraus? Sie sah ihn ein mit einen Blick an, der sowohl verlegen. als auch irritiert, zugleich aber auch ein wenig herausfordernd war, an.
Schmunzelnd sah er sie an. Er war grösser, sehr viel grösser als sie, und sie musste zu ihm aufsehen, was ihr Durcheinander im Kopf noch verstärkte. Je länger er auf sie schaute, desto mehr hatte sie den Wunsch im Boden zu versinken, oder einfach zu explodieren. So verwirrt hatte sie noch nie ein Mann. Er nahm einfach ihr Leben in seine Hand, und sie fand es wunderbar. Das kannte sie nicht, aber das wollte sie, doch ER sollte das auf keinen Fall bemerken. Und doch wusste sie, das er es schon wusste. Einen Moment kam sie sich gläsern vor. So durchsichtig wie Glas und genauso zerbrechlich. War das die berühmte „Liebe auf den ersten Blick?“
Ihr Herz schlug im Stakkato Takt und schien aus ihrer Brust springen zu wollen. „Sag doch was!“: wollte sie schreien.
Er nahm aber ihre Hand in seine rechte, hielt mit der linken den Beutel in dem Fisch und Wein waren, und zog sie, wieder wortlos, hinter sich her. Wohin wollte er mit ihr? Eine wohlige Angst erfüllte sie, und ihre Beine gehorchten ihm, nicht ihr. Sie funktionierten, obwohl sie dauernd dachte, das sie gleich weg knicken müssten.
Sie liefen eine kleine Seitenstrasse entlang, an der Rückseite von Gärten und Garagen. Unvermittelt stoppte er, und sie lief mitten in ihn hinein.
Ein leises Schmunzeln zog um seine Mundwinkel , er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche, und schloss das schwere, schmiedeeiserne Tor auf. Kein Wort hast er gesprochen, seit dem Entschuldigungsversuch an der Fischtheke. Er schob sie sanft durch das Tor, nahm wieder ihre Hand, führte sie nun langsam und fast zärtlich zu einer Veranda, auf der Stühle und Tische standen. Nun schob er ihr einen Stuhl zurecht, sie liess sich erleichtert fallen und er verschwand im Haus. Nach 2 Minuten kam er mit einem Tablett auf dem Teller und Weingläser standen, und sogar eine Schüssel mit fertigem Weißkrautsalat. Er stellte das Tablett ab, sah sie an, und nach einigen Sekunden, in denen ihre Haut zu glühen begann, fragte er sie:“Wie heisst du eigentlich?“
Als sie antworten wollte, kam nur ein Krächzen aus ihrem Hals. Sie schluckte trocken, räusperte sich, und nahm einen neuen Anlauf, aber da hielt er ihr schon ein Glas Wein hin. Sie blickte ihn dankbar an, und nahm einen grossen Schluck. Und noch bevor sie ganz geschluckt, versuchte sie zu antworten, doch es kam dabei nur ein Hustenanfall herum. Da nahm er ihre Hände, je eine Hand von ihm, in eine von ihm. In eine warme, sehr gepflegte, wohltuende Hand. Sofort strömte eine angenehme Ruhe durch sie, und der Hustenreiz verging.
Jeder andere hätte ihr auf den Rücken geklopft. Nicht so er. Er vertraute auf die Wirkung seiner Nähe, und genau das wirkte auch. „Marlene,“ sagte sie: „Marlene heisse ich.“
Er legte den rechten Zeigefinger unter ihr Kinn, hob den Kopf leicht an, und seine Lippen legten sich auf ihre.

Und wenn sie nicht gestorben sind…..

Autor:

Claudia Jacobs aus Mülheim an der Ruhr

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