Wilhelm Neurohr: Europa von unten. Vortrags-Kurz-Zusammenfassung

Vortrag Wilhelm Neurohr am 28. September in Wesel:

Europa von unten

Welche Schlüsselrolle kommt angesichts des krisenhaften Zerfalls des bürgerfernen Europa der EU künftig den bürgernahen Kommunen und Regionen für eine Neubegründung Europas von unten zu? Wie kann das gültige Subsidiaritätsprinzip als Schutz vor einem übermächtigen und lobbyhörigen Zentralstaat wiederbelebt werden? Welchen Beitrag für die Zukunft eines anderen Europa – eines sozialen, solidarischen, demokratischen, friedlichen, humanitären und ökologisch orientierten Europa – können die Menschen vor Ort in Eigenverantwortung wirksam leisten? Kann die untere, tragende Ebene der Demokratie die kulturelle Kraft aufbringen, das einseitig auf die Wirtschaftsinteressen ausgerichtete Europa aus der Krise zu führen und den Menschenrechten wieder Geltung zu verschaffen? Was ist unsere Zukunftsvision von Europa – eines Europa der Menschen und der Regionen statt eines Europa der Konzerne und Finanzmärkte sowie der nationalen Egoismen?

Das missbrauchte und unsolidarische Europa der EU mit seinen nationalen Egoismen, seiner Scheindemokratie, seiner Lobbykratie, seinen neoliberalen Dogmen und der Diktatur der Finanzmärkte entfernt sich immer mehr vom einstigen Anspruch des Kontinents der Menschenrechte. Die von ihren Bürgerinnen und Bürgern weiter denn je entfernte EU versteht sich fast nur noch als Währungs- und Wettbewerbshüter und sieht das Heil der Zukunft in Bestrebungen nach einem zentralistischen Bundesstaat für über 500 Mio. Menschen, quasi als Maßstabsvergrößerung des Nationalstaatsgedankens, mit dem Ziel des wettbewerbsstärkster Binnenmarktes in Konkurrenz gegenüber dem „Rest der Welt“. Eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Visionen von einer solidarischen Wirtschafts- und Sozialpolitik führt sichtbar zum Zerfall Europas. Die Verengung des öffentlichen und politischen Lebens auf wirtschaftliche und fiskalische Fragen sowie die Unterordnung der diesem dienenden Politik ist zum Scheitern verurteilt. Die Idee eines vereinten Europa ist politisch geradezu degeneriert.

Vom gepriesenen „Europa der Bürger“ mit dem europäischen Sozial- und Demokratiemodell und als Friedensprojekt sind wir weiter denn je entfernt, ebenso seit der Ukraine-Krise von einer zukunftsnotwendigen Ost-West-Integration. Und mit dem unsäglichen Begriff des „Exportweltmeisters“ fällt Deutschland als „führende Wirtschaftsnation“ der EU innerhalb einer globalisierten Wirtschaft in nationale Denkkategorein zurück. Mit seiner Militär -und Handelspolitik und dem Rückfall in nationale Egoismen und Abschottungspolitik hat Europa die humanitäre Krise mit ihren Flüchtlingsströmen und Armutswanderungen verschärft und mit verursacht sowie die innere Spaltung in Arm und Reich befördert. Eigentlich müsste die EU den unverdienten Friedensnobelpreis zurückgeben, denn ohne sozialen Frieden gibt es keinen Frieden. Diese Entwicklungen sowie die dramatische Wahlenthaltung bei den Europawahlen und das Vordringen rechtsnationaler Gruppierungen in allen Ländern Europas Europa zeugen vom Zerfall Europas mit einhergehender Sinnkrise, einer existenziellen sowie humanitären Krise der EU.

Das Krisenbündel aus Euro-und Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Demokratiekrise, sozialer Krise, Klimawandel, Flüchtlingsdrama und militärischer Zuspitzung inmitten einer chaotischen Weltlage, lässt eine Neubesinnung und Neubegründung Europas dringend notwendig erscheinen, denn das wahre Europa geht anders. Die Frage nach der Zukunft Europas ist zuvorderst eine Frage nach den zivilisatorischen und kulturellen Grundlagen und der kulturellen Entwicklung. Dafür hat die Wirtschaft eine dienende und nicht beherrschende Funktion.

Für die Zukunft des kriselnden und zerfallenden Europas kommt den Hunderttausenden Kommunen und Regionen mit ihren Menschen eine tragende Schlüsselrolle zu. Denn das bloße ohnmächtige Starren in einer Zuschauerdemokratie auf das Handeln der von Lobbyisten getriebenen politischen und wirtschaftlichen Eliten mit ihrem verfehlten Krisenmanagement hilft Europa nicht weiter. Weder von die Brüsseler Zentrale noch vom ziemlich machtlosen Straßburger Parlament, geschweige von den nationalen Regierungsvertretern ist ein grundlegender Neubeginn für ein demokratisches, soziales und solidarisches, friedliches und ökologisches Europa zu erwarten, sondern nur von den engagierten Menschen vor Ort selber.

Somit müssen die 500 Millionen Menschen in Europa vor Ort in ihren kulturellen, lokalen und regionalen Lebenszusammenhängen selber ihr Europa der Zukunft von unten gestalten in einem „Europa der Regionen“. Denn dort treffen sämtliche Probleme und Herausforderungen sowie Menschenbegegnungen wie in einem Brennglas aufeinander und fordern zur individuellen Verantwortung für das Geschehen heraus.
Die weitgehend von der EU mit ihren Vorgaben, Rechtsnormen und Geldtöpfen sowie Wettbewerbsregeln abhängigen Kommunen als örtliche und regionale Gemeinschaften müssen nach dem gültigen Subsidiaritätsprinzip ihre demokratischen Rechte energisch und kreativ wahrnehmen und notfalls „zivilen Ungehorsam“ üben.

In einem Bürgerkonvent sollten sie sich an vorderster Stelle an der Erarbeitung einer neuen Verfassung für Europa von unten beteiligen, die den neoliberal geprägten Lissabonner Vertrag als derzeitige Ersatzverfassung ablöst, (der immerhin auf dem Papier die Stellung der Kommunen und Regionen stärkt und ihnen erstmals ein Klagerecht vor dem EU-Gerichtshof einräumt.) Die Neubesinnung auf die eigentliche demokratische Kraft muss aber weitergehen und bereits erfolgte Schritte müssen in die Realität umgesetzt werden, statt in Vergessenheit zu geraten:

• Vor 30 Jahren hat der Europarat als ersten völkerrechtlichen Vertrag die Rolle der Städte und Gemeinden als erste bürgernahe Ebene der Demokratie bekräftigt.

• Vor 25 Jahren wurde die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung in Kraft gesetzt.

• Vor 20 Jahren wurde durch den Europarat der Kongress der Gemeinden und Regionen eingerichtet.

• Vor 10 Jahren wurde der Kooperationsvertrag zwischen dem Ausschuss der Regionen und der EU abgeschlossen, der auf die Förderung lokaler und regionaler Demokratie, Regionalisierung und Selbstverwaltung in Europa abzielt.

Eine Neubegründung Europas kann nur von unten ausgehen, von dort, wo der Jugend- und Kulturaustausch und die Städtepartnerschaften in Europa stattfinden, wo die Migranten in den Stadtvierteln integriert werden und die Menschenbegegnungen sich real abspielen, wo in den Europa-Schulen der Friedens- und Europagedanke zur Völkerverständigung gepflegt wird, wo regionale Kultur gepflegt („Einheit in der Vielfalt“) wird, wo Bürgernähe und Basisdemokratie möglich sind und die Lebensverhältnisse selber geregelt werden, wo sich Demokratie von unten nach oben aufbaut mit dem Subsidiaritätsprinzip als Schutz vor zentralstaatlicher Willkür oder globaler Konzernherrschaft. Denn das Primat der Politik gilt zuallererst auch für die lokale Ebene.

Im Rahmen der europäischen Bürgerbewegung gegen TTIP/CETA/TISA haben Hunderte Gemeinderäte, Stadtparlamente und Kreistage in Deutschland, Frankreich, Österreich u.a. mit ihren Ratsbeschlüssen bereits bewiesen, dass sie sich Brüsseler Diktaten und Frontalangriffen gegen die Kommunen von oben widersetzen, mit denen ihre kommunalen Selbstverwaltungsregeln massiv beschnitten würden. Das kann nur ein Anfang sein in dem Bemühen für ein neues, ein anderes, ein bürgernahes Europa von unten.

„Wenn wir Europa noch einmal gründen, sollten wir nicht mit der Wirtschaft, sondern mit der Kultur beginnen.“

Volltext des Vortrags → http://zeitfragen-info-blog.blog.de/2015/11/10/wilhelm-neurohr-themenreihe-europa-geht-wege-krise-20780632/

Autor:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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