Den einzelnen Menschen im Blick behalten

Diakonie-Pfarrerin Ursula Borchert

"Miteinander teilen - Flüchtlingen helfen"

Diakonie-Pfarrerin Ursula Borchert im Gespräch


„Miteinander teilen – Flüchtlingen helfen" – unter diesem Motto steht eine Artikel-Serie der Evangelischen Kirche in Bochum, die beispielhaft zeigt, wo sich Christen in Bochum engagieren, wo Kirchengemeinden zwischen Dahlhausen und Langendreer Türen öffnen für ein menschliches Miteinander und was kirchliche Experten jetzt raten. Denn den Flüchtlingen zu helfen ist für die Evangelische Kirche ein Gebot christlicher Verantwortung. Rolf Stegemann hat mit Gemeinde- und Diakonie-Pfarrerin Ursula Borchert über die Situation der Flüchtlinge in Bochum gesprochen:

??: Die Diakonie in Bochum engagiert sich auch in der Flüchtlingshilfe: Wie sieht diese Hilfe konkret aus?

Borchert: Im Bereich der Diakonie in Bochum gibt es ein sehr breites Engagement- einiges noch recht neu, anderes schon über einige Jahre.

Die Stiftung Overdyck nimmt sich schon länger der Kinder- und Jugendlichen an, die als unbegleitete Flüchtlinge hier ankommen. Ohne Eltern oder Erwachsene haben sie den Weg aus ihren Heimatländern nach Deutschland zurückgelegt und tragen Erfahrungen in sich, die wir kaum erahnen können. Bei uns leben sie in Wohngruppen gemeinsam mit anderen, können zur Schule gehen, werden im Alltag durch erfahrene pädagogische Kräfte und ehrenamtliche Vormünder begleitet.

Die Innere Mission – Diakonische Werk Bochum e.V. ist – angesichts der hohen Flüchtlingszahlen - ebenso wie alle anderen Träger der freien Wohlfahrt von der Stadt angefragt worden, sich im sogenannten Übergangsmanagement zu engagieren. Hier werden Sozialarbeiterinnen tätig, die denjenigen Flüchtlingen Unterstützung geben, die nach zum Teil mehrmonatigem Aufenthalt in einem Übergangswohnheim die Berechtigung bekommen, in Wohnungen um zuziehen. Dabei übernehmen Mitarbeitende der Verbände gemeinsam mit den betroffenen Menschen die praktische Organisation der Suche nach einer geeigneten Wohnung, beraten bei Behördengängen und begleiten zu Kindertageseinrichtungen oder Schulen.

Zurzeit begleitet die Diakonie gemeinsam mit der Caritas das Übergangsheim an der Wohlfahrtstraße. Absehbar aber ist schon jetzt eine Ausweitung der Tätigkeit auf weitere Standorte.

Aber auch andere Beratungsdienste der Diakonie sind für die Flüchtlinge Anlaufstelle. So suchen sie im Evangelischen Beratungszentrum Rat und Hilfe nach den oft traumatischen Erfahrungen auf ihrer Flucht, kommen in die Wohnungslosenhilfe und zum Mittagstisch. Perspektivisch wird derzeit am Aufbau einer Fachstelle für minderjährige Flüchtlinge mit Traumatisierungserfahrung gearbeitet.

Zudem wenden sich immer mehr Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen an die Beratungsstellen und bitten um Fortbildungsmöglichkeiten, die ihre Kompetenz im Arbeitsalltag mit Flüchtlingskindern erweitern.

Um gerade kleineren Kindern und ihren Familien ein pädagogisches Angebot machen zu können, wurde durch die Diakonie Ruhr ein „Kita-Bus“ eingerichtet. Dieser Bus fährt die verschiedenen Unterkünfte an, um Kindern, die nicht einen Kindergartenplatz gefunden haben, Spiel- und Begegnungsmöglichkeiten zu bieten. Hinzu kommen unzählige kleine Hilfen und Aktionen: Eltern der Integrativen Kindertageseinrichtung stellen Kinderkleidung für die Erstaufnahme im Bochumer Südwesten zusammen, Mitarbeitende der Diakonie und Beschäftigte in den Einrichtungen und Werkstätten starten eine Geschenkaktion und verteilen kleine Päckchen an Kinder aber auch Erwachsene. Darüber hinaus gibt es in zahlreichen Kirchengemeinden im Bereich der Gemeindediakonie konkrete Hilfen vor Ort, werden Versorgungsstrukturen mit aufgebaut, Feste durchgeführt, Kontakte geknüpft, Räume zur Verfügung gestellt, Menschen willkommen geheißen, Einladungen ausgesprochen, am Leben der Gemeinden, im Stadtteil teilzunehmen – und dies immer gemeinsam mit anderen Akteuren im Quartier.

??: Wie sehen die ersten Erfahrungen mit den Angeboten aus?

Borchert: Der Unterstützungsbedarf ist hoch und die begleiteten Familien und Einzelpersonen sind dankbar für jede Hilfe. Für Menschen aus anderen Kulturkreisen ist es schier unüberschaubar, was zum Beispiel alles zu einem Umzug dazugehört. Hier ist es wünschenswert, stärker über die Modalitäten zu informieren und Vermietern die Sicherheit zu geben, dass Mietverhältnisse nicht nach kurzer Zeit wieder gekündigt werden. Weiterhin ist und bleibt aber der Bedarf an Wohnraum hoch.

Zudem wird daran gearbeitet, wie Menschen mit einem Aufenthaltsstatus das Einleben in ihrem neuen Wohnumfeld erleichtert werden kann, z.B. durch Wohnpatenschaften als eine Idee einer guten und gelingenden Nachbarschaft. Besonders bemerkenswert ist die hohe Bereitschaft gerade der Jugendlichen, Sprachkenntnisse zu erwerben und hoch motiviert Schule und Ausbildung zu absolvieren.

??: Stichwort Erfahrungen: Als Gemeindepfarrerin kennen Sie auch die Netzwerkarbeit vor Ort, z.B. das Netzwerk Südwest...?

Borchert: Die Arbeit der Menschen, die sich in Netzwerke organisieren ist außerordentlich. Es beindruckt mich immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Menschen darin organisieren, überlegt sich verständigen und handeln. Hohes Engagement, Flexibilität und tatkräftige Hilfe in allen Bereichen, die eine Bewältigung des Alltags möglich machen zeichnet sie aus.

Gleichzeitig nehmen sie auch wahr, was über die reine Versorgung hinausgeht: Unterstützung beim Erlernen der Sprache, Angebote, den Stadtteil, die Stadt kennenzulernen, sich orientieren zu können, Begegnungen zu ermöglichen, unbürokratisch, herzlich, offen und schnell, Kirchengemeinden und einzelne Menschen im Verbund mit anderen - und jeder bringt seine spezifischen Gaben und Möglichkeiten zum Wohl aller ein – nicht jeder kann alles, will alles, muss alles allein tun – das entlastet und dient gleichzeitig in positiver Weise der Sache. Hier zeigt sich, wie gut es ist, wenn soziales Miteinander gelingt - über die Grenzen von Organisationen, Parteien, Religionsgemeinschaften hinweg und alle an einem gemeinsamen Ziel arbeiten.

??: In den letzten Tagen mehreren sich die kritischen Stimmen in der Flüchtlingskrise: Überlastete Helfer, überforderte Behörden und zum Teil gewaltsame Auseinandersetzungen in den Flüchtlingsheimen. Wie nehmen Sie die aktuelle Situation in Bochum wahr?

Borchert: Die Situation ist schon sehr angespannt, sowohl Ehrenamtliche als auch Hauptamtliche arbeiten bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und oft auch darüber hinaus. Zuweisungen von Flüchtlingen halten unvermindert an, Aufnahmekapazitäten sind immer wieder sehr schnell erschöpft. Das heißt gleichzeitig aber auch: nicht agieren, sondern auf die täglichen Herausforderung immer nur reagieren zu müssen. Das lässt keine Zeit, konzeptionell Angebote zu entwickeln und nachhaltige Strukturen zu installieren. Nachhaltigkeit kann so kaum erreicht werden.

Und die Situation in den Übergangsheimen ist für die dort lebenden Menschen nicht einfach. Da ist es gut, wenn mit Lern- und Informationsveranstaltungen, sportlichen Aktivitäten, und vielem anderen mehr die Zeit gestaltet werden kann, die sonst mit zermürbendem Warten verbracht werden müsste bis alle erforderlichen Formalitäten und Anerkennungsverfahren abgeschlossen sind.

??: Es mehren sich auch die Stimmen, die davor warnen, dass die positive Stimmung gegenüber den Flüchtlingen "umkippen" könne. Was können gerade einzelne Christen, aber auch die Kirche als Gemeinschaft tun, um den Schutz Suchenden einen menschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen?

Borchert: Für jeden einzelnen sollte es Aufgabe und Verpflichtung sein, eine Haltung zu entwickeln, die nicht nur von Euphorie und ausschließlich dem guten Gefühl zu helfen geprägt ist - und dann relativ schnell wieder das Eigene in den Blick nimmt. So wird sicherlich die Sorge, der Unmut über das, was vielleicht eine Zeitlang eigene Einschränkungen bedeutet, Meinungsbildend werden und einer Akzeptanz und Toleranz gegenüber Flüchtlingen entgegenwirken.

Vielmehr halte ich es für sinnvoll, mit durchdachtem Einsatz und Besonnenheit dazu beizutragen, dass die Offenheit und Sensibilität für die Bedürfnisse der Menschen, die bei uns Sicherheit und Schutz suchen, gewahrt bleibt. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, sich nicht von Darstellungen beeinflussen zu lassen, die eine Vielzahl, um nicht zu sagen ‚Massen‘ von Menschen zeigt – solche Bilder schüren Ängste, machen unsicher, lassen den einzelnen hinter der Anonymität verschwinden. Pauschale Urteile, ungeprüft übernommene Meinungen wirken einer guten und annehmenden Stimmung entgegen.

Die Chance einzelner Christen, aber auch von Kirche und ihrer Diakonie gemeinsam liegen darin, dieses Bewusstsein wachzuhalten oder auch neu anzustoßen: Den einzelnen Menschen im Blick zu behalten mit dem, wonach er oder sie sich sehnt, sich wünscht, erhofft, und immer wieder Begegnungen zu ermöglichen und Brücken zueinander zu bauen. Wenn ich Menschen kennenlernen kann, von ihren Lebensumständen erfahre, weiß ich um ihn oder sie, verstehe ich Hintergründe ihres Handelns, kann Beziehungen aufbauen und gemeinsam einen Alltag leben, der nicht von Angst und Unsicherheit geprägt ist. Und: Begegnungen helfen nicht nur dem anderen, sondern erweitern auch meinen Horizont, da sind Nehmen und Geben im guten Einklang. Alles, was dazu dient, dass aus Fremden Freunde werden, ist ein wertvoller Beitrag zu einem menschenwürdigen Aufenthalt, lassen Verlässlichkeit und Sicherheit für jeden einzelnen spürbar werden.

Biblische Geschichten erzählen viel von Menschen, die auf der Flucht sind, die ihre Heimat aufgeben und Neuanfänge wagen müssen. Erfahrungen, die heute nicht viel anders sind als damals, die uns aber sicherlich auf den ein oder anderen Gedanken für unser eigenes Handeln nahe bringen können. Und es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Menschen hierher kommen, Schutz, Sicherheit, Frieden und Freiheit suchen. Sicherlich gilt es auch aus diesem wertvollen Erfahrungsschatz zu schöpfen und darüber im Gespräch zu bleiben.

Autor:

Rolf Stegemann aus Bochum

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