Die Sanktionspraxis im SGB II und das Milgram-Experiment

"Einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen kontinuierliche Grundsätze des Rechtes verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, dass es angewendet und befolgt wird." (BVerfG, Az: 2 BvR 557/62, 14.02.1968)

Meldungen der Bundesagentur für Arbeit über Hartz IV-Betrüger und Sanktionen heizen derzeit wieder das unkritische Volk auf. Ob aber die Sanktionspraxis der BA im Hartz IV-Gesetz den verfassungsrechtlichen Grundlagen überhaupt genügt, ist bisher noch gar nicht ausgeurteilt. Folgt man der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so ist nämlich das Existenzminimum um jedem Preis zu gewähren und darf nicht gekürzt werden.

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“
(BverfG, 09.02.2010, Az.: 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09)
http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html

Erinnern wir uns: die Jobcenter – verfassungswidrig (BverfG, 2 BvR 2433/04, 20.12.2007); die Regelleistungen – verfassungswidrig (BverfG, Az.: 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09, 09.02.2010); das Sozialgeld für Kinder – verfassungswidrig (BverfG, , Az.: 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09, 09.02.2010).
Und Sanktionen bis tief unter das soziokulturelle Existenzminimum sollen rechtens sein?

Während also „der Stern“ am 15.03.2012 vermeldete: „Zahl der Hartz-IV-Betrüger sinkt deutlich“; ist noch gar nicht entschieden, ob nicht sogar möglicherweise die Jobcenter selbst als verfassungswidrig handelnde Sanktionierer in Kürze als die tatsächlichen „Betrüger“ entlarvt werden, weil sie dem Gesetzgeber unkritisch im „Sekundärrecht SGB II“ gefolgt sind und dabei die verfassungsrechtlich zu schützenden Grundrechte regelmäßig verletzen.
http://www.stern.de/wirtschaft/news/jahresbericht-zu-leistungsmissbrauch-zahl-der-hartz-iv-betrueger-sinkt-deutlich-1800122.html

Die Statistiken der BA veröffentlichen nur die Sanktionsmeldungen, verschweigen aber sorgfältig die hohen Zahlen derjenigen Sanktionen, die in Widerspruch- und Klageverfahren zurückgenommen werden müssen. Erwerbslose, die unterstützt von Initiativen und Rechtsanwälten gegen die solche Sanktionierung vorgehen, bekommen regelmäßig ihr Geld nachgezahlt. Allerdings oft erst nach einem langen Prozessieren. Das bedeutet aber zunächst, die Jobcenter haben verfassungswidrig die Unterschreitung des Existenzminimums verschuldet, oder zumindest billigend in Kauf genommen.

Wer oder was aber treibt einen Sachbearbeiter dazu, dermaßen leichtfertig seine Mitmenschen und zum Teil deren Familien „zu gefährden“? Kürzungen in Familien führen unweigerlich zu einer Form von „Sippenhaft“.
Das Milgram - Experiment - Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität

1961 wurde in New Haven erstmals ein psychologisches Experiment durchgeführt, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen.
„Das Milgram-Experiment sollte ursprünglich dazu dienen, Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus sozialpsychologisch zu erklären. Dazu sollte die „Germans-are-different“-These geprüft werden, die davon ausging, dass die Deutschen einen besonders obrigkeitshörigen Charakter haben.
Der Versuch bestand darin, dass ein „Lehrer“ – als die eigentliche Versuchsperson – einem „Schüler“ (ein Schauspieler) bei Fehlern in der Zusammensetzung von Wortpaaren jeweils einen elektrischen Schlag versetzte. Ein Versuchsleiter (ebenso ein Schauspieler) gab dazu Anweisungen. Die Intensität des elektrischen Schlages sollte nach jedem Fehler erhöht werden. Diese Anordnung wurde in verschiedenen Variationen durchgeführt.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment

Die Frage ob man existenzunterschreitende Leistungskürzungen mit Stromschlägen vergleichen darf, kann hier offen bleiben. Die Sanktionpraxis im SGB II sieht Leistungskürzungen von 10%, 30%, 60%, 100% vor und weist zumindest in dieser Steigerung von zunehmender Gefährdung eine Parallele aus.

„Die rechtlichen und philosophischen Aspekte von Gehorsam sind von enormer Bedeutung, sie sagen aber sehr wenig über das Verhalten der meisten Menschen in konkreten Situationen aus. Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.“
Stanley Milgram: The Perils of Obedience, Harper´s Magazine, 1974

Kleine Filmsequenzen können helfen die Sanktionspraxis im SGB II neu zu bewerten.

Das Milgram-Experiment in der Fassung von Henri Verneuil – Teil 1 (8:24 min)
http://www.youtube.com/watch?v=88YJTg1nETk

Das Milgram-Experiment in der Fassung von Henri Verneuil - Teil 2 (5:06 min)
http://www.youtube.com/watch?v=ZVFk50iGKCI&feature=relmfu

Original Milgram Experiment (engl.) (8:29)
http://www.youtube.com/watch?v=8olVHKgIBXc&feature=related

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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