Am Ende der Welt ( für Katja )

Das Bergnest „Immouzer“ war ein verschlafenes Dörfchen, das in der flirrenden Mittagshitze den Schatten suchte. Nur ein paar alte Männer hockten im Schutz einer zerbröselnden Lehmmauer, während sich vorbeihuschende Eidechsen in den Mauerfugen verkrochen.
Ein gut rasierter Soldat im Khaki saß auf einem Klapphocker und versperrte breitbeinig den Zugang zu einer Art Militärbaracke. Die marokkanische Flagge mit dem Stern des Propheten hing schlaff am Fahnenmast. Als der Soldat unsere neugierigen Blicke erwiderte, straffte sich sein Oberkörper wie bei einem Wachhund. Seine Maschinenpistole lag griffbereit und doch nachlässig über seinen Knien.
Ein abgemagerter Hund überquerte hinkend die Dorfstrasse.
Der abschüssige Schotterweg führte uns direkt auf einen staubigen Platz, auf dem ein Überlandbus vor sich hin rottete. Mehrere Schuppen auf dem Gelände bargen undefinierbares Gerümpel und ein junges Mädchen mit tief in die Stirn gezogenem Kopftuch verbrannte Abfälle.
Ein Pfeil verwies auf das „Hotel des Cascades“.
Nachdem ich unseren R4 abgestellt hatte, lockte uns eine Treppe durch luftiges Buschwerk auf eine Terrasse, die von blühenden Mandelbäumen umgeben war. Das kleine Hotel, das am Hang lag, wurde von kubischen Säulen gestützt, die sich gegen die Tiefe des Abhanges stemmten. Die locker arrangierten Tische auf der Terrasse wurden von kaffeehausartigen Stühlen eingerahmt. Aus der Küche hörte man das Klappern von Tellern und französisches Stimmengewirr, als wäre man in der Haute Provence. Oder in einer französische Enklave mitten in der marokkanischen Bergwelt.
Der Wirt, der trotz dieser Weltabgeschiedenheit auf seine europäisch orientierte Kleidung – schwarzer Westenanzug, weißes Hemd – zu achten schien, schrieb in stenografischem Galopp unsere Wünsche auf. Am Nebentisch saßen drei junge Männer bei ihrem schwarzen Kaffee. Auch sie waren westlich gekleidet und trugen sorgfältig gestutzte Schnurrbärte.
Unsere Tochter unternahm auf eigene Faust ihre Entdeckungstour. Ausgelassen kam sie herbei gesprungen und legte begeistert ihre Schätze auf den Tisch:
„Dahinten steht ein Apfelsinenbaum.“
„Komm, Katja, wir gehen vor dem Essen noch etwas spazieren,“ sagte Maren und blinzelte mir zu. Die beiden verschwanden über ein kleines Treppchen und kamen erst unterhalb der Terrasse wieder in mein Blickfeld.
Während Maren das völlig verrottete Schwimmbecken inspizierte, in dessen geplatzter Haut dicke Moospolster nisteten, winkte mir Katja zu. Etwas nachlässig erwiderte ich ihren Gruß, während ich die Orangen in meine Umhängetasche packte wie ein sparsamer Hamster.
Nachdem wir unser Essen bezahlt hatten (es gab eindrucksvolle Metallspieße , sogenannte Brouchers, auf denen sich acht kleinste Fleischstücke wie eine Vierteltonleiter perlten) trauten wir uns einem Wegweiser an, der auf die „Cascades“ verwies.
Als wir den serpentinartigen Schotterweg ins Tal krochen, wusste ich, dass am Ende der Welt etwas Besonderes sein musste.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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