Die Parabel von den Teetassen

Bevor sie sich zum ersten Mal trafen, fragte er sie, welchen Tee sie trinke.
Kräuter- oder auch Früchtetee, doch eigentlich sei es ihr egal, er solle sich keine Umstände machen, antwortet sie. Wusste sie doch von seiner Krankheit und dem Zittern seiner Hände.

Als sie sein Zimmer betrat, half er ihr aus der Jacke und ihr fiel sofort die monströse Teemaschine auf, die fast die Hälfte des kleinen Tisches beschlagnahmte, der vor dem Fenster stand.
Zwei Tassen aus zartem Porzellan standen bereit.

Er bat sie, den Tee aufzubrühen, weil er es nicht mehr schaffte. Es war schwarzer Tee. Sie füllte ihn in das Gerät und ihre Hände zitterten mehr als seine.

Er zeigte ihr Bilder von früher.

Als der Tee lange genug gezogen hatte, goss sie ihn in die Tassen. Beide nippten kurz daran und stellten fest, dass er sehr heiß war.

Sie betrachteten die alten Bilder und er erklärte ihr anhand einer Zeichnung seinen früheren geliebten Garten so anschaulich, dass sie ihn heute noch vor sich sieht.
Die Zeit verging wie im Fluge.

Als sie sich nach Stunden verabschieden wollte, stellten sie fest, dass die Teetassen noch dreiviertel voll waren.

Auf dem Heimweg fiel ihr ein, dass sie ganz vergessen hatte, die Tassen zu spülen. Das schrieb sie ihm am übernächsten Tag, nachdem er sie gefragt hatte, ob er sie wiedersehen dürfe.

Er sei der Gastgeber gewesen und es sei seine Aufgabe, die Tassen zu spülen. So habe er es immer gehandhabt, sagte er.

Sie sei der Gast gewesen und es sei ihre Aufgabe, ihm anzubieten die Tassen zu spülen. So habe sie es zu Hause gelernt, erwiderte sie.

So diskutierten sie eine zeitlang hin und her, der alte kranke Mann und die für ihn junge Frau.

Als sie zum ersten Mal zusammen ein paar Schritte spazieren gingen, wollte er ihr einen Fliederzweig abpflücken, doch dafür hatte er nicht mehr genügend Kraft in seinen Händen.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, und plötzlich sagte er:
„Ich habe die Lösung. Ich spüle deine Tasse und du die meine.“

Sie beschlossen es so zu tun.

Am nächsten Tag schickte er ihr ein Foto von einem Fliederzweig.

Autor:

Birgit Schild aus Düsseldorf

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