Ein Keks für's Leben

Sie fasziniert mich nach wie vor, die Geschichte vom Keks, der lange, lange Zeit hatte, bis er verspeist war, und der ein Leben veränderte.
Er war ein Geschenk des Himmels. Und nach all dem was ich weiß, wurde er auch im Nachhinein, nachdem die ärgste Not längst überstanden war, als solches bewertet – nicht mehr und nicht weniger.

Er kam in einem kleinen Päckchen aus der Luft geflogen und fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. Natürlich war er nicht sofort als Keks zu erkennen, das Päckchen war viel größer und schwerer, es roch ganz anders, ja es hatte sogar etwas Bedrohliches. Wem konnte man noch trauen in diesen Tagen?

Man hatte es vom Hörensagen vernommen, dass es ihn gäbe, den Keks, der zunehmend große Bedeutung bekam, je länger man an ihm herumknabberte. Wie er aussah, das lag in diesen Zeiten außerhalb der Vorstellungskraft. Die Bilder, die sich vor dem inneren Auge auftaten, waren Bilder der Vergangenheit, an die Zukunft war nicht mehr zu denken. Während der Hunger nagte, gab es sie nicht mehr, die Hoffnung, die einmal alles bedeutet hatte.

Und dann lag da ein Päckchen: In festes Papier eingewickelt, gut verschnürt, hart war es und eigentlich gar nicht attraktiv.
Es hatte so viele Warnungen gegeben, so sehr war auf einen eingeredet worden, Begrenzungen, Einschüchterung, damit man ja nichts Unbedachtes tat. Es war zum Besten gewesen, zu wessen auch immer.
Schließlich hatte man auch selbst erfahren, dass Misstrauen gesund ist und Vorbehalt vor falscher Hoffnung schützt.
Gefahr, Bunker, Angst, das war das, was am Ende übrig war.
Was hatte man zu verlieren?

Vielleicht war das der Grund dafür, dass dieses eher unansehnliche Päckchen eine solch große Anziehungskraft besaß. Man berührte es vorsichtig und wendete es. Nachdem man festgestellt hatte, dass es wohl nicht explosiv war, hatte man es unter der löchrigen Jacke zu verstecken versucht, aber wegen der Ausmaße des Päckchens und der großen Löcher in der Jacke, war die Tat nicht zu verbergen.

Eigentlich schien sich in diesen Tagen auch keiner sonderlich für den anderen zu interessieren. Die Aussichtslosigkeit der Lage und die Abwesenheit von Hoffnung hatten das Ihre getan. Jeder drehte sich um sich selbst und um sein eigenes Leid.
Was war das nur für ein absonderliches Päckchen, daß es so viel Aufsehen erregte?

Es fehlte an Kraft. Die vergangenen Kriegsjahre hatten alles verbraucht. Das Aufbegehren, die Rebellion, der Idealismus es erschien am Anfang noch wert eingesetzt zu werden, aber je länger dieser wahnsinnige Krieg dauerte, umso schmerzlicher bewusst wurde auch die Sinnlosigkeit des eigenen Kampfes. Und so gab man sich schon bald geschlagen. Man setzte sich auf die Bank, an der man gerade vorbeikam und machte sich behutsam daran, die Knoten zu lösen, mit denen das Päckchen zusammen gehalten wurde.

Einige blieben stehen. Aus hohlen Augen beobachteten sie genau, stets bereit, im Falle von Gefahr die Flucht zu ergreifen und in Deckung zu gehen. Der Hunger hatte Saubermänner zu Dieben gemacht. Erfahrenes Leid hatte die Prioritäten verrückt.
Wer sich schämte kam zu nichts, oder er kam um.

Schamlos fielen sie über den Inhalt des Päckchens her, das einmal liebevoll gepackt worden war.
Es war wie im Traum, im schlechten, im guten.
Süßigkeiten flogen durch die Luft, wechselten ihre Besitzer mehrmals, überall Süßigkeiten und doch waren sie nicht greifbar. Dann knallte es irgendwo und alle rannten, mit dem was sie ergattert hatten, wie besessen davon.

Man hatte gerade die löchrige Jacke am mageren Körper glatt gezogen und war im Begriff gewesen resignierter denn je zu gehen, da hatte man ihn entdeckt: DEN Keks. Was übrig geblieben war, war EIN Keks. Ein GANZER Keks. Wie war es möglich, dass DIESER Keks noch ganz war, nach all dem was sich hier gerade abgespielt hatte?

Bisher hatte man seinen Wert aus materiellem Gut bezogen. Mit dem Verlust aller Güter, hatte man jegliche Würde verloren. Es gab nichts mehr. Man war nichts mehr. Der Wert, den man besaß, maß sich an dem, was man gerade hatte erbeuten können.

Ein Keks.
Der Wert, der einem unverhofft zu Teil geworden war.
Die Würde, die einem zugeflogen war.
Das Einzige, was noch zählte.

Lange hatte man ihn einfach nur ungläubig angestarrt. Man hatte ihn gedreht, gefühlt. Immer wieder hatte man an ihm gerochen, um sich dann die winzigen Krümel von der Nasenspitze auf den Finger zu streichen. Diese Krümel schmeckten salzig, nach Rotze und sie knirschten zwischen den Zähnen wegen des Drecks von den Fingern, die keine Seife mehr kannten.

Man wagte nicht hinein zu beißen, also leckte man daran. Der Duft hatte sich intensiviert. Langsam weichte eine Ecke auf, bevor sie abfiel hatte man sie mit den Lippen aufgefangen. Mit der Zunge hatte man den Keksbrei auf den Lippen verteilt und dann eine Weile einfach nur da gesessen. Der Keks, alles was zählte. Eigentlich war er in den Körper hinein geschmolzen, hatte sich aufgelöst, keine Substanz und doch war er spürbar, brachte am Ende neues Leben in die Glieder.

Es wurde bereits dunkel, als man sich erhob, um zu gehen. Man wusste nicht wo hin. Man wusste auch nicht wie lange noch. Aber es hatte sich etwas Grundlegendes verändert.

Man hatte ihn gesehen, den Keks vom Hörensagen.
Und man hatte geschmeckt wie köstlich er war.

Diesen Text aus dem Jahr 2008 habe ich im Zusammenhang mit der Diskussion um das Thema „Menschenwürde“ unter Elisabeth Keldenich’s Text Beerdigung light nun erneut hier im Lokalkompass eingestellt.

Autor:

Femke Zimmermann aus Düsseldorf

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