Leichenteile überall verstreut
Vor 200 Jahren: Katastrophale Zustände auf dem lutherischen Kirchhof in Hagen

Blick vom Unterberg über Volme und Marktplatz auf die lutherische Johanniskirche und rechts davon die reformierte Kirche mit dem Zwiebelturm auf dem Dach; Aufnahme von ca. 1865. | Foto: Stadtarchiv Hagen
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  • Blick vom Unterberg über Volme und Marktplatz auf die lutherische Johanniskirche und rechts davon die reformierte Kirche mit dem Zwiebelturm auf dem Dach; Aufnahme von ca. 1865.
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Jahrhundertelang diente auch in Hagen ein um die Pfarrkirche am Markt angelegter Kirchhof als Friedhof. Nach der Reformation nutzten die Lutheraner die heutige Johanniskirche als Gemeindekirche und den Kirchhof als ihren Begräbnisplatz. Bereits um 1800 herrschten auf dem lutherischen Kirchhof in Hagen aber selbst für damalige Verhältnisse katastrophale Zustände.

Von Gerhard E. Sollbach

In Folge des im 18. Jahrhundert und vor allem in dessen zweiten Hälfte sich allgemein vollziehenden Bevölkerungsanstiegs war der Kirchhof der lutherischen Gemeinde Hagen, zu der außer der Stadt noch ca. 20 Dörfer in der Umgebung gehörten, längst viel zu klein geworden. Daher sah sich der Kirchenvorstand genötigt, die Liegezeiten auf dem Kirchhof immer mehr zu verkürzen.
Nach einem Bericht des örtlichen lutherischen Predigers Johann Friedrich Dahlenkamp aus dem Jahr 1805 wurden die Gräber auf dem Kirchhof spätestens alle sechs Jahre wieder belegt. Die noch nicht vermoderten Särge in den Gräbern mussten dann zerschlagen und herausgeworfen werden, um die Grabstelle anschließend mit einer neuen Leiche belegen zu können. Beim Öffnen der Gräber und dem Herauswerfen der zerschlagenen Särge kam es aber öfters vor, dass von den Totengräbern auch noch unverweste Leichenteile wie Arme, Beine sowie Schädel, an denen noch die Haare hafteten, stückweise mit ausgegraben und herausgeworfen wurden. Diese scharrte man beim Zuschaufeln des Grabes dann wieder mit ein. Da auf Grund der schnellen Wiederbelegung der Gräber aber nicht mehr tief genug begraben werden konnte, geschah es nicht selten, dass herumstreunende Hunde Leichenteile wieder ausgruben und über den Kirchhof verstreuten. Wie es in einem amtlichen Bericht vom Februar 1806 an die Landesregierung heißt, konnte man auf dem Kirchhof daher „schauerhafte Scenen“ beobachten.
Auf Grund der Tatsache, dass in einem Grab mehrere Leichen übereinander gestapelt lagen und die Gräber folglich nur mit einer dünnen Erdschicht bedeckt werden konnten, war laut dem Bericht der Verwesungsgeruch auf dem Kirchhof deutlich wahrnehmbar.
Doch es waren nicht nur die „schauderhaften Szenen“ und der Verwesungsgeruch, die damals ein obrigkeitliches Einschreiten veranlassten, sondern vor allem gesundheitspolizeiliche Erwägungen. Nach der seinerzeit in der wissenschaftlichen Medizin herrschenden Lehre wurden Krankheiten und insbesondere Seuchen nämlich durch aus dem Boden aufsteigende und durch Zersetzungs- und Fäulnisprozesse hervorgerufene „Dünste“ verursacht. Die mitten in den Wohnbereichen gelegenen Kirchhöfe betrachtete man daher wegen der dort in großer Zahl stattfindenden Verwesungsprozesse und folglich entstehenden schädlichen Dünste zunehmend als eine Gefahrenquelle für die menschliche Gesundheit.
So ordnete das am 1. Januar 1794 in Kraft getretene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten auch die Verlegung der Kirchhöfe aus den Ortschaften nach außerhalb für die gesamte Monarchie gesetzlich an.
Doch die Kirchengemeinden widersetzten sich hartnäckig der obrigkeitlichen Anordnung. Auch die lutherische Kirchengemeinde in Hagen gehörte dazu. Ihr Kirchenvorstand versuchte mit allen möglichen und meist nur vorgeschobenen Gründen, die Schließung des mitten in der Stadt gelegenen und von Wohngebäuden dicht umgebenen Kirchhofs zu verhindern, oder doch wenigstens immer weiter hinauszuzögern. Zum einen war es das Festhalten der Gemeindemitglieder an einer alten Tradition, zum anderen die Sorge der meist armen Kirchengemeinden vor den ihnen durch die Anlage eines neuen Begräbnisplatzes entstehenden Kosten, die den Kirchenvorstand zu seinem Widerstand veranlassten.
Auch ein Befehl von 1798 der kleve-märkischen Landesregierung, die gesetzlich vorgeschriebene Kirchhofverlegung nunmehr endlich zu verwirklichen, änderte nichts an der Haltung des Kirchenvorstands. Ebenso erfolglos blieb die Erneuerung der Regierungsanordnung vier Jahre später.
Erst nachdem die Grafschaft Mark und damit auch die Stadt Hagen 1808 Teil des von Napoleon I. geschaffenen französischen Großherzogtums Berg geworden waren, gelang es der großherzoglich-bergischen Regierung, die Kirchhofverlegung in Hagen durchzusetzen. Am Ostermontag 1810 wurde der damals noch außerhalb der Stadt gelegene heutige Buschey-Friedhof feierlich eröffnet.

Blick vom Unterberg über Volme und Marktplatz auf die lutherische Johanniskirche und rechts davon die reformierte Kirche mit dem Zwiebelturm auf dem Dach; Aufnahme von ca. 1865. | Foto: Stadtarchiv Hagen
Rundverfügung vom 19.3.1802 der kleve-märkischen Landesregierung mit der erneuten Anordnung der Kirchhofverlegung. | Foto:  Landeskirchliches Archiv der Ev. Kirche von Westfalen, Bielefeld
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Lokalkompass Hagen aus Hagen

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