Schulstory: Elternsprechtag

Diesmal muss ich hin. Und leider nicht nur zum Mathelehrer.

Die Zeiten ändern sich. Aus stillen Kindern, die aufmerksam zuhören, werden äußerst gesprächige Jugendliche, die sich gerne im Unterricht auseinander setzen. Bedauerlicherweise aber nicht immer mit Themen, die der Lehrplan vorschreibt.

Mathe, Biologie, Geschichte. Das ergibt in dieser Reihenfolge lehrertechnisch betrachtet: unkompliziert, Horror, Albtraum. Die letzten beiden Konstellationen kann man auch beliebig austauschen.

Mathe ist Mutter. Eindeutig. Leider fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Kinder kommen eben selten auf andere Leute.
Der Mathelehrer ist jung, engagiert und beziffert Tatsachen.
Trotz Nachhilfe hoffnungslos, weiß er, weiß ich, zeigen die Arbeiten. „Kann ja alles noch kommen“, sinniert er und denkt dabei bestimmt an Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Resultat: Nettes Fünfminutengespräch.

Doch das Schlimmste habe ich noch vor mir:
Geschichte und Biologie, oder die Wahl zwischen: Erst Herrn A oder ungern doch Herrn Z? Oder besser umgekehrt? Am liebsten gar nicht, aber Eltern bleibt nichts erspart. Lehrern wahrscheinlich auch nicht, daher beschließe ich zunächst einmal in Ruhe einen Kaffee beim Förderverein zu trinken. Zu netten Gesprächen gesellt sich ein leckeres Stück Kirschstreusel.
Nach einer Stunde muss ich endlich gehen. Leider nicht nach Hause, sondern zu Herrn A und Herrn Z.

Ich wähle spontan Herrn Z, den Geschichtslehrer.
Mir wird ein bisschen schlecht, was aber nicht am Kuchen liegt, sondern der Tatsache geschuldet ist, dass sich der letzte Abilehrgang ein Schild um den Hals gehängt hat mit der Aufschrift: „Wir haben Herrn Z überlebt.“
Als die Tür aufgeht und ein kalkweißer Vater sich knapp verabschiedet, hoffe ich, später noch lebend bei Herrn A aufwarten zu können.

Herr Z. winkt mich zu sich. Ich darf eintreten. Mir wird erlaubt, mich zu setzen. Direkt vor das Lehrerpult. Ich denke an meine Zöpfe und an die weißen Kniestrümpfe in der dritten Klasse. Warum, weiß ich nicht, liegt wahrscheinlich an seinem Siegelring, den er langsam zwischen den Fingern dreht oder an der strengen Musterung meiner Person. Ohne Worte warte ich auf den Paukenschlag, der nicht lange auf sich warten lässt und mir verheißt: „Heft ordentlich, Beteiligung gar nicht, Test drei minus.“
Letzteres weiß ich, das Übrige ist mir auch nicht fremd.
„Angesichts der heutigen zu Grunde liegenden Fakten: Ausreichend im Fach Geschichte.“
Ich nicke und beschließe, lieber ihn weiter reden zu lassen. Er erhebt sich für eine kurze Ansprache, ich bleibe besser sitzen, denn jetzt habe ich Zöpfe und trage Kniestrümpfe, wie in der dritten Klasse.
Anschließend stehe ich wortlos auf. Fast hätte ich die Hacken zusammengeschlagen, im letzten Augenblick halte ich mich davon ab und belasse es beim Händedruck. Den Knicks verkneife ich mir so gerade noch.

Stattdessen gehe ich zum Förderverein zurück und trinke ein Glas Wasser. Mir ist zwar nach einem Schnäpschen zu Mute, aber ich muss ja noch zu Herrn A. Und da sollte wenigstens einer von uns beiden versuchen, in sprachlich nüchterner Art und Weise den Punkt anzuvisieren. Den fehlenden Schnaps gleiche ich mit dem zweiten Kirschstreusel aus. Danach bin ich ein bisschen bereiter für den letzten Lehrer.

Herr A. ist ein Biologiegenie Mitte oder Ende fünfzig. Er ist liebenswert, hat nur leider die Angewohnheit, außerhalb seines Fachs etwas sehr zerstreut zu sein. Das gestaltet die Unabwendlichkeit „Elternsprechtag“ langatmig und nervenaufreibend. Für die Eltern. Wie das für ihn ist, weiß ich nicht.
Der Flur ist bereits hoffnungslos überfüllt. Herr A liegt mit einer Stunde im Rückstand. Die Stühle sind alle besetzt, Zeitschriften wie beim Arzt gibt es leider keine, schlechte Laune liegt in der Luft und daher kehre ich erneut zum guten Zweck und damit zum dritten Kirschstreusel zurück. Nach eineinhalb Stunden bester Unterhaltung habe ich nur noch einen Vater vor mir und fünfundzwanzig Minuten später darf ich eintreten.

Eine kurze Begrüßung und seine „Ähms“, veranlassen mich dazu, erst einmal das aktuelle Foto meiner Tochter zu zeigen.
Beinahe rutscht mir der Satz: „Kennen Sie die?“ heraus.
Er betrachtet eindringlich das Bild. Zögerlich beginnt er mit
„Die...ähm...“
Ich ergänze das „Ähm“ mit ihren Namen und er fragt nach der Klasse.
„Ach, ja!“
Gut! Er scheint sich zu erinnern.
Pause.
Er sucht seine Unterlagen. Er findet sie nicht. Er hört auf sie zu finden und geht zum Fenster.
Dort angekommen, erzählt er mir, dass da draußen gerade ein Radfahrer mit einem grünen Anorak vorbeifährt.
Ich gehe nicht darauf ein. Stattdessen erzähle ich ihm, was er zu meiner Tochter gesagt hat. „Weniger quatschen, mehr aufpassen.“
Er läuft langsam zu seinem Platz zurück, legt die Fingerkuppen in Zeitlupe aneinander, äußert ein gedehntes „Ja,“ betrachtet das Bild erneut, steckt die Hände in die Hosentaschen und stellt fest: „Dann wird das wohl so sein.“
Hervorragend, in diesem Punkt scheinen wir uns einig zu sein. Jetzt am besten direkt in die Offensive! Daher frage ich, ob das Ergebnis des Biotests inzwischen bekannt ist?
Er geht zurück zum Fenster, das Ergebnis scheint auch zwei Monate später immer noch nicht bekannt zu sein, denn ihm fällt dazu nur ein, dass er bald wieder einen schreiben muss. In welcher Klasse lässt er offen. Ich frage jetzt nicht nach.
In Gedanken versunken kehrt er visuell zu mir zurück. Daher nutze ich den Augenblick, springe auf und verabschiede mich herzlich. Herr A schaut mich an und sagt bedächtig: „Nettes Mädchen, sehr nett.“

Jetzt hoffe ich so einige Dinge:

1. Er erinnert sich tatsächlich an meine Tochter und gibt ihr eine Zwei, als Ausgleich für die wieder einmal knallhart zu erwartende Vier in Geschichte.

2. Er vergisst den geschriebenen Biotest und auch, noch einen schreiben zu wollen. Egal in welcher Klasse.

3. Hoffe ich, dass sich die Zeiten in einem halben Jahr erneut ändern, wenn der nächste Elternsprechtag ansteht, den Kirschstreusel natürlich ausgenommen.

Autor:

Andrea Margraf aus Neukirchen-Vluyn

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