Irgendwo auf der Welt…

Im Mariengymnasium näherten sich Georg Dücker und sein Chor der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
Foto: Bangert
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Ein ebenso lebenslustiger wie nachdenklich machender Abend mit dem Essener Vokalensemble

Ein Konzert? Eine Lesung? Beides. Schöne Stimmen, umso bösere Texte. Der Schrecken lauert hinter den Worten.

Fast vierzig Jahre lang lehrte Georg Dücker in Werden. Eine Institution. 1975 gründete der Dirigent, Komponist und Musikpädagoge das Essener Vokalensemble. Von Beginn an standen außergewöhnliche Interpretationen der a-Capella Musik im Mittelpunkt des Kammerchors. Im Mariengymnasium nähern sich Dücker und sein 27-köpfiger Chor mit hohen sängerischen und musikalischen Qualitäten der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Sie interpretieren pointiert mit „I got rhythm“ einen der meistgespielten Jazz-Standards aller Zeiten. George Gerswhin gibt den Takt vor und Bruder Ira schreibt einen betont lebenslustigen Text: In den Bäumen singen die Vögel. Bei „Let’s do it“ von Cole Porter „tun“ sie es sogar. Schrecksekunde. Wird’s jetzt etwa obszön? Nein, da sei amerikanische Prüderie vor. Mit erotisch aufgeladenen Andeutungen spielen, die schreckliche Welt „da draußen“ ignorieren. Eine bewährte Strategie, die dunklen Wolken vergessen zu machen. Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Inflation, der Krieg. Wer will schon an sowas denken? Stattdessen tiriliert der Chor von Wochenend‘ und Sonnenschein: „Tief im Wald nur ich und du - der Herrgott drückt ein Auge zu“. Nett und harmlos. Oder doch nicht? Drei Mitglieder der Comedian Harmonists waren Nichtarier und Librettist Charles Amberg überlebte nur knapp das KZ.

Beängstigende Parallelen

Rita Tekülve hat die Texte ausgesucht, in denen sich die Zeit spiegelt. Sprecherin Klara Eham triff den gewollt naiven Ton: „Der Krieg (bellum) ist jener Zustand, in welchem zwei oder mehrere Völker es gegeneinander probieren.“ Ludwig Thomas „Schulaufsatz“ erschien 1903 im Simplicissimus und entwickelt geradezu beängstigende Parallelen zum Trumpschen Verständnis von Weltpolitik: „In der jetzigen Zeit gibt es mehr Handelskriege, weil die Welt jetzt nicht mehr so ideal ist.“ Ludwig Thoma wurde spät anonymer Verfasser antisemitischer Hetzartikel.
Sprecher Klaus Zimmermann liest aus einem Liebesbrief. Kurt Weill schreibt seiner Lotte von einem Ruhr-Epos, an dem er mit Brecht in Essen arbeitet. Doch die Pläne zerschlugen sich: Essen zeigte sich als rückständige Provinz und die Presse verhinderte mit aggressivem Antisemitismus und Ressentiments die Aufführung: „Diese zwei Juden sollen jetzt die ‘große Kunst’ von Berlin nach Essen bringen?”. Dabei darf man das ziemlich abgehobene Berlin der 20er Jahre durchaus kritisieren. Texter Marcellus Schiffer nimmt jedenfalls das neue Lebensgefühl auf die Schippe: „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit, es liegt in der Luft eine Stachlichkeit…“ Die dazugehörige Revue verleiht dem ganzen Abend den Namen.

Ein Happyend?

Ratibor! Am Höhepunkt angekommen ist der Chor bei der experimentellen „Fuge aus der Geographie“ von Ernst Toch. Ein rhythmischer Sprechgesang, neusachliche „Maschinenmusik“. Dirigent Dückers zackige Dirigierbewegungen lassen jedenfalls an die Maschinisten im Film Metropolis denken. Brechts Herr K. erklärt, warum die menschlichen Haifische ab und zu große Wasserfeste ausrichten: „Lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige.“ Feste als „Brot und Spiele“ zur Ablenkung des Volkes? Erleben wir das nicht gerade wieder bei der Fußballweltmeisterschaft?
Der Abend klingt nicht sachte aus, sondern er rast förmlich durch das Forum des Mariengymnasiums: „Und die Moral von der Geschicht: Klaut keine Kokosnüsse nicht!“ Die Zugabe verspricht: „Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück…“ Ach, wünschen wir uns nicht alle so ein kleines, ganz persönliches Happyend?

Im Mariengymnasium näherten sich Georg Dücker und sein Chor der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
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Ein Vokalensemble mit hohen sängerischen und musikalischen Qualitäten.                 Foto: Bangert
Autor:

Daniel Henschke aus Essen-Werden

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