Leserbrief: Mut zu eigenen Erfahrungen

Mittlerweile steht fest: Gladbeck wird auch im nächsten Jahr ein neues Zuhause für Geflüchtete werden. In einem Leserbrief berichtet die Gladbeckerin Heike Becker davon, wie sich Vorurteile in einer persönlichen Begegnung schnell verflüchtigen können.

"Vor Kurzem erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter. Sie erzählte mir, dass in der leerstehenden Wohnung bei ihr im Haus jetzt Flüchtlinge eingezogen seien. Einer der Männer hatte offenbar auf Englisch versucht, meine Mutter um Hilfe zu bitten.Das Einzige, das meine Mutter verstand, war aber, dass er bei Aldi eine Telefonkarte gekauft hatte, um mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben; er konnte sie aber nicht aktivieren.Er zeigte sein Handy und gestikulierte, weil meine Mutter ihn nicht verstand. Ein anderer Nachbar, der der englischen Sprache mächtig war, kam zu Hilfe. Es stellte sich heraus, dass mehrere Männer aus Syrien, Pakistan und dem Irak in der leerstehenden Wohnung untergekommen waren. Meine Mutter ließ fragen, ob sie etwas brauchten. Der Mann zeigte auf eine Lampe, meinte allerdings die Glühbirne darin. Um es ihr besser verständlich zu machen, bat er sie herein. Meine Mutter war geschockt: Die Zimmer waren bis auf einige Matrazen komplett leer. Kein Regal, kein Tisch, kein Stuhl, kein Licht, nichts. Im Badezimmer gab es ein Stück Seife und ein schmutziges Handtuch. Als meine Mutter nach dem Essen fragte, zeigte er ihr den leeren Kühlschrank in der Küche und den nicht angeschlossenen Herd. Sie wussten nicht einmal, ob er elektrisch oder mit Gas funktionierte. Als sie wieder in ihrer Wohnung war, rief meine Mutter mich sofort an.

Eine sehr gute Mutter

Mein Mann und ich kamen sofort und machten uns ein Bild. Da wir englisch sprechen, dauerte es nicht lang, bis klar war, dass sofort geholfen werden musste. Sofort holten wir einen Tisch und Gartenstühle aus dem Keller.Ich packte eine Tüte mit Duschgel, Seife, Nagelfeilen und Taschentüchern und legte einen Packen frischer Handtücher dazu.Wir ließen noch einige Lebensmittel fürs Abendbrot dort und wollten gehen. Immer wieder bedankten sich die Männer. Meine Mutter versuchte unterdessen immer wieder zu fragen, wie sie noch helfen konnte. Ich nahm sie in den Arm und erklärte den Männern ihre mütterliche Art: ‚She is a mum.‘ Dann sprach einer der Männer das aus, was ich schon immer wusste: ‚She is a very good mum.‘ Am nächsten Tag bin ich nochmals zur Wohnung.Ich hatte versprochen, ein altes Radio vorbeizubringen und packte noch warmes Essen dazu. Diesmal traf ich auch eine Frau dort an. Sie besuche ihren Bruder und sei selbst in Bottrop Boy untergebracht, wo es aber wegen einer defekten Heizung sehr kalt sei. Sie bat mich Platz zu nehmen, Stühle waren ja nun vorhanden. Ich blieb lange dort und redete mit ihr über ihr Leben.Sie erzählte mir, dass sie Lehrerin in Syrien gewesen sei, doch schon seid drei Jahren nicht mehr arbeiten konnte, weil der IS dort mordete und Terror verbreitete. Sie und ihr Bruder hätten jetzt nur einen Wunsch: Schnell deutsch lernen und hier Arbeit finden.

Praktische Hilfe

Die Familie fehlt den neuen Nachbarn meiner Mutter sehr. Sie bedankten sich immer wieder, dass wir unsere Hilfe angeboten hatten. Die Frau erzählte mir, dass es für sie schon unglaublich schwierig sei, den richtigen Bus zu finden, um zwischen Bottrop und Gladbeck hin und her zu pendeln, denn niemand verstehe sie. Ich erklärte ihr, dass nicht jeder hier englisch spricht und die Busse tagsüber oft in anderen Abständen fahren als abends oder an den Wochenenden. Meine Idee: Ich erklärte schriftlich auf einem Blatt Papier, dass sie kein deutsch spricht und man ihr bitte die richtige Busverbindung sagen oder aufschreiben möge, damit sie nach Hause kommt oder ihren Bruder besuchen kann. Dieses Schreiben kann sie nun zur Hilfe nehmen, wenn sie jemanden fragen muss. Da ich selbst ein wenig verunsichert war, ob ihr auch wirklich geholfen würde, fragte ich sie, wie sie hier von den Menschen behandelt wird. Sie strahlte und sagte: ‚Sehr freundlich. Die deutschen Leute sind sehr nett und hilfsbereit.‘ Hier in Gladbeck und Bottrop hätten sie nur gute Erfahrungen gemacht. Als ich ging, nahm sie mich in den Arm und bedankte sich nochmals mit einem herzlichen: ‚Thank you very much‘ und sagte, dass sie sich sicher sind, dass sie es hier schaffen werden.

Wie soll ich mich waschen, wenn ich seit Wochen kein Handtuch habe? Wie soll ich meine Wäsche waschen ohne Waschmaschine? Wohin bringe ich den Müll, wenn mir niemand zeigt, wo der Mülleimer steht? Schnell hat man Vorurteile ohne die Hintergründe zu kennen. Ich bin sicher, dass ähnlich herzliche Erfahrungen auf diejenigen warten, die den Mut haben, sie zu machen.

Autor:

Jens Steinmann aus Herne

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