„In 100 Metern Ankunft“ - oder die Navigation in eine neue Heimat

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die eine große Hoffnung in sich tragen.
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Was bedeutet Heimat, was bedeutet zu Hause sein frage ich mich, als ich im Auto sitze und mein Navigationssystem starte - irritiert darüber, dass solche Systeme dafür erfunden wurden, an (s)ein Ziel zu gelangen. Ziel, Heimat? Besitzen Menschen auch so etwas wie ein Navigationssystem? Und was ist die Software? Unser Herz, unser Kopf?

Die Scheibenwischer fahren monoton über die beschlagene Windschutzscheibe, Novemberregen im Oktober. „In 170 Metern biegen Sie rechts ab“, höre ich die mechanische Stimme des Navis. Ich frage mich, was mich erwartet, habe Angst, mit einer Wahrheit konfrontiert zu werden, die die häusliche Distanz der Abendnachrichten im Fernsehen nicht zulässt.

„Ringstaße 64. Sie haben ihr Ziel erreicht, es liegt links von Ihnen.“ Vorsichtig beäuge ich die ehemalige Schule in Moers-Kapellen. Das unauffällige Gebäude liegt am Feldesrand. Die Notunterkunft für Flüchtlinge ist nur eine von vielen deutschlandweit, die erste Anlaufstelle für Menschen die auf der Flucht vor ihrer eigenen Heimat sind. Verfolgt, vertrieben, auf dem Weg in eine neue Zukunft. Angstvoll, ungewiss.
Als ich durch den Regen zum Eingang gehe, höre ich Kinderstimmen. Sie lachen und das Geräusch von kleinen quietschenden Bobbycar-Reifen klingt in meinen Ohren. Freundliche Gesichter am Eingang, Security-Männer, die mich sofort mit einem Lächeln in Empfang nehmen. Der Weg durch den überdachten Flur, vorbei an den instand gesetzten und neu etablierten Waschräumen, ist ungewohnt. Junge Männer stehen unter der Überdachung und blicken mich mit dunklen Augen an. Blicke, die aufmerksam und freundlich sind. Ein Lächeln wird fast synchron erwidert und ich frage mich, wie es wohl sein muss, in einem Land angekommen zu sein, dessen Sprache man nicht versteht, dessen Kultur man nicht kennt, von dem man nicht weiß, ob es einen haben will. Es muss unerträglich sein – aber die Blicke sind ruhig, hoffnungsvoll, dankbar.

Ich treffe Andre Bröcking vom Fachdienst Soziales der Stadt Moers. Er strahlt, wenn auch erschöpft – Schlaf: in den letzten Wochen Mangelware. Eröffnung der Notunterkunft: 24. Juli 2015. Vorbereitungszeit: 30 Stunden. Eine Wahnsinnsleistung. „Manche Städte müssen noch viel schneller reagieren“, sagt er bescheiden.
Die Situation im Land: Überforderung. Das Verfahren: Amtshilfeersuche an die einzelnen Kommunen durch die Bundesländer, Notunterkünfte zu schaffen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Unterkünfte als Wegetappen, auf einer Reise, die noch kein Ziel hat. Denn bis zur Registrierung, bis zur Einleitung des Asylverfahrens dauert es noch. In Moers sind es im Durchschnitt zwei bis drei Wochen, bis die Flüchtlinge in dauerhafte Unterkünfte verteilt werden. „Wir versuchen es so kurz wie möglich zu halten“, erklärt Bröcking, „um die Leidenszeit zu verkürzen.“ Denn ohne konkrete Perspektive, ohne Zeit- und Lebensplan wird eben solcher in der Notunterkunft irgendwann unerträglich - „Lagerkoller“.

Dankbar, für alles, was wir tun

Ich will wissen, was alle anderen interessiert. Wie sind die Abläufe, wie ist die Koordination, wie geht es den Menschen, die mit dem Wahnsinn von Krieg und Bedrohung heimatlos geworden sind. Heimatlos werden wollten. Denn wie soll man Heimat besitzen, wenn man stirbt? „Die Lage in Moers ist recht entspannt in Anbetracht der Tatsache, dass wir es mit einem ungeahnten Ausmaß an Flüchtlingen zu tun haben.“

Die Menschen seien entspannt und zufrieden mit allem, was man ihnen gebe, so Bröcking weiter. Und das, weil sich eine ebenso ungeahnte Hilsbereitschaft in der Bevölkerung entwickelt habe. Das beginnt mit Kleiderspenden, Dolmetscherleistungen, Betreuungsangeboten für Kinder und Erwachsene oder auch Sprachvermittlung. Man kann beobachten, wie dankbar die Menschen all dies in Anspruch nehmen. Zu 15 stehen sie in einem Kreis und saugen mit wachem Blick das Wissen aus den Worten. Denn sie wollen lernen, wollen arbeiten, wollen Heimat finden. „Wir können nicht mehr zurück, nie wieder. Wir haben alles, was wir haben, aufgegeben, wir haben alles, was wir hatten, verkauft, wir haben alles zurückgelassen für ein Leben ohne Angst“, sagen sie und wissen, dass es kein Zurück mehr gibt. 30.000 Euro, erzählt einer von ihnen, habe er gezahlt, um nach Deutschland zu gelangen. 30.000 Euro war alles was er besaß. 30.000 Euro für ein neues Leben.
Aber die Situation ist auch in Moers alles andere als einfach. Die ehemalige Schule, die nach den Sommerferien eigentlich als öffentliche Kintertagesstätte hätte genutzt werden sollen, ist durch die Umfunktionierung in einem guten Zustand. Aber die Betreuungsbetriebe sind überlastet, es fehlt an allen Ecken und Enden. Weil so schnell keine Betten aufzutreiben waren, behalf man sich interimsweise mit Feldbetten, die das Rote Kreuz zur Verfügung gestellt hat. Doch schon bald soll die Notunterkunft erweitert werden: von aktuell 195 auf 260 Belegplätze. Zu 15 leben die Menschen in einem Raum, in Familien- oder Jungesellenzimmern. „Wir versuchen die Menschen ein wenig nach Nationalitäten einzuordnen“, so Bröcking, denn auch er weiß, wie wichtig der soziokulturelle Aspekt für Menschen ist. Gerade in Ausnahmesituationen ist es wichtig, wenigstens ein wenig vom Klang der Heimat zu hören, mit Menschen sprechen zu können, sich auszutauschen. Sprache ist immer auch ein Stück weit Identität, ein Stück Heimat.

Manchmal reicht schon ein Lächeln

Meine anfängliche Befürchtung, beim Anblick traumatisierter Kinderaugen, weinenden Müttern, desillusionierten Männern, zu zerbrechen, hat sich aufgelöst und ich bin beeindruckt von so viel Mut, Durchhaltevermögen und Kraft. Eine Situation, die das Team um Bröcking beherzt und klug befördert hat. „Manchmal reicht einfach nur ein ehrliches Lächeln“, sagt er, „oder ein Anruf.“ Als eine syrische Frau mit ihren zwei kleinen Kindern hier eintraf, ging auch er an seine emotionale Grenzen. „Sie war verwitwet und der einzige Verwandte neben den Kindern, den sie noch hatte, war ihr Bruder. Doch von diesem war sie bereits in Dortmund getrennt worden. „Sie können sich nicht vorstellen, was für emotionale Szenen sich abgespielt haben. Also haben wir sofort versucht, ihn mittels Datenabgleich zu finden.“ Nach drei Tagen war er hier.
Das sind wohl die Momente, in denen man begreift, wie wichtig diese Flüchtlingshilfe ist, wie wichtig das Schicksal eines jeden Einzelnen ist, und wie wichtig die Hilfe eines jedenen Einzelnen ist. Seien es Materialspenden, sei es mit Kindern zu basteln oder sich einfach mal Zeit zu nehmen. Als bei einem chinesischsprachigen Flüchtling dann aber einfach kein Dolmetscher zu finden war, rief das Team der Notunterkunft kurzer Hand im Restaurant Wang Fu an. „Die waren so nett und haben dann am Telefon alles übersetzt“, erzählt Bröcking und lächelt. Denn auch so, ja auch so kann Flüchtlingshilfe manchmal aussehen.

Bis Ende 2016 wird es wohl noch dauern

Offiziell soll es die Notunterkunft noch bis zum 15. Oktober geben, eine absurde Annahme, geschätzter Zeitraum: Ende 2016. Zehntausende von Menschen werden noch kommen, die das Team in der Notunterkunft noch vor so manche Herausforderung stellen werden. „Was wir brauchen, ist Wohnraum zu fairen Preisen“, betont Bröcking, mit der Bitte, auch hier die Hilfsbereitschaft der vielen Helfer zu erreichen. Als ich die Notunterkunft verlasse, regnet es immer noch, der Himmel ist grau und verschlossen. Und obwohl ich nichts dafür kann, schäme ich mich für die Ungerechtigkeit in dieser Welt, für die Selbstverständlichkeit und Dekadenz des Luxus, der uns tagtäglich umgibt - schäme mich für meine Befindlichkeit und Wohlstandssorgen. Da höre ich es wieder, das Quietschen der kleinen Autoräder. Darauf sitzt ein kleines Mädchen mit dunklen Locken und großen, braunen Augen. Sie lächelt mich an und fährt wie selbstverständlich zu den anderen kleinen Autos, die auf dem Schulhof geparkt sind. Parken - Ankommen - Heimat finden, denke ich und hoffe inständig, dass es auch für dieses kleine Mädchen irgendwann einmal heißt: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die eine große Hoffnung in sich tragen.
Andre Bröcking vom Fachdienst Soziales der Stadt Moers.
Autor:

Regina Katharina Schmitz aus Dinslaken

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