Der Mann an ihrer Seite

Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, sass Sie an seinem Bett.
Ihre roten Haare waren zerzaust, weil sie immer wieder mit den Händen durch die Haare fuhr, wie um den Kopf klar zu bekommen. Die Gedanken an die Zukunft wollte sie vertreiben. An eine Zukunft, die ohne ihn stattfinden würde.
Seine Zukunft, die die er noch hatte, würde aus Schmerzen bestehen. Er war jetzt schon vom Morphium immer so müde, das er kaum noch wach war.
Seine erste Diagnose war schon vernichtend.
Unheilbar!
Seine Zeit war schon abgelaufen. Schon vor Wochen. Er hatte sich geweigert Morphium zu nehmen, solange es ging. Er wollte nicht die Kontrolle verlieren.
Sein Leben lang hatte er sie gehabt, und nun, auf den letzten Metern, wollte er sie nicht aus der Hand geben. Er hatte weiter gearbeitet, auch nach seiner Diagnose. Tat es auch jetzt noch. Arbeit war sein Leben, und so schrieb er Fachartikel auf seinem Laptop.
Dann fehlte ihm oft die Kraft für anderes. Die Kraft für Sie. Sie verstand es. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn, für das was er war, nicht für das was Sie sich wünschte.

Sie kannten sich ein Jahr. Ein knappes Jahr, aber eines, das Nähe in ihrer reinsten Form zuliess. Sie waren an einem Punkt zusammen gekommen, an dem nur die Gefühle füreinander noch zählten. Kein Kokettieren, kein Beeindrucken wollen waren mehr wichtig. Sie waren nackt voreinander. Sie sahen den anderen rein und klar, wie Sie es noch nicht erlebt hatte. Und mit dieser Sicht, wuchs auch ihre Liebe.

Er war Jurist, war Jugendrichter gewesen, bis er nicht mehr an das glaubte, was er im Urteil erhoffte, hatte für Amnesty gearbeitet, bis die Grausamkeiten in den Akten die er bearbeitete, Schäden an seiner Seele verursachten, ging dann in den Staatsdienst und gab immer sein Bestes.
Er hatte ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und ein Kind gezeugt. Seine Pflicht gegenüber dem Leben war erfüllt. Nun wäre es am Leben gewesen, seine Pflicht ihm gegenüber zu erfüllen.
Doch das tat es nicht!
Es riss ihn mitten heraus, aus dem Leben das er liebte. Mitten heraus aus einer neuen Liebe, und würde Wunden schlagen, die nicht mehr heilen konnten.

Als Sie ihn kennenlernte, war sie glücklich. Ohne Partner, aber glücklich. Sie vermisste nichts. Sie wollte auch keinen Mann mehr in ihrem Leben. Doch dann fiel er ihr in den Schoss. Und Sie fiel in seinen.
Unverhofft, unerwartet, und anfangs sogar ungewollt.
Doch dann passierte das, was man gemeinhin ein Wunder nennt. Sie waren wie ein Puzzle. Jeder hatte Teile, die zusammen ein ganzes ergaben. Alles passte und aus ihnen wurde Eins.
Erst als seine Diagnose kam, erkannten sie, warum das alles so schnell gegangen war. Sie hatten keine Zeit mehr für Langsamkeit.

Keine Zeit!

Und die wenige, die sie hatten, wurde von einer Kletterpflanze namens Krebs geprägt, die sich durch seinen Körper schlängelte. Von einem Organ zum nächsten. Und die Blüten wurden immer grösser.
Sie hätte gerne mehr Zeit gehabt, dennoch haderte sie nicht mit dem Schicksal, sondern dankte ihm, das sie überhaupt Zeit mit ihm hatte. Qualität nicht Quantität waren wichtig.
Alles musste schneller gehen als sonst, und sie hatte noch so viele Fragen.

Wie sang Barry Ryan damals? „Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt!“

Vor ihnen machte sie keinen Halt. Sie schien schneller zu laufen. Immer schneller auf das Ende zu. Schon 2 mal hatte sie ihre Liebe an den Tod verloren. Und nun sollte es wieder so sein.
Diese Liebe war anders als frühere. Sie war zwar leidenschaftlich, aber dennoch ruhiger. Wie ein Fluss, der Kurven hat, und hier und da mal einen Wasserfall, dem aber die aufgeregten Stromschnellen fehlen, die den Weg ändern können. Sie versprach Beständigkeit, wohl aufgrund der Erfahrung, die beide Partner gesammelt hatten. Sie ergänzten sich und wurden nicht gleich und damit Langweilig. Man wollte nicht mehr besitzen, sondern geniessen was man bekam. Und hier wurde der Spruch wahr, nachdem nur der Vogel zurückkommt, den man frei lässt.

All das ging ihr durch den Kopf, als Sie hier sass und seine Hand hielt. Ihr wollte nicht in den Kopf, das dieser Mensch bald nicht mehr sein würde. Das alles, was er in seinem Kopf und seinem Herzen trug, unwiderbringlich verloren sein würde, Das er zu einer Erinnerung werden würde.
Darum hatte sie noch so viele Fragen, weil sie Erinnerungen brauchte, die sie niemals gemeinsam hatten sammeln können. Sie wollte ihn auch später noch um Rat fragen können, wenn er schon lange fort war. Anderen den Rat geben, den er gegeben hätte.
Sie wollte eine lebendige Form der Erinnerung. Eine die ihn für immer bei ihr sein liess.
Ihr Herz verkrampfte sich und ihr wurde übel, als das Begreifen des Verlustes, der ihr bevor stand, die Macht über ihre Gefühle bekam. Das waren die Momente, in denen Sie dachte, das Sie mit ihm gehen wollte.

Er hatte in der kurzen Zeit schon soviel Einfluss auf ihr Leben gewonnen, das sie diesen Gedanken schnell wieder verdrängte. Sie würde ihn ehren durch das was sie tat.
Stark sein, so das er leichter loslassen konnte. Das was sie sich auch wünschte für ihren letzten Weg.
Sie wollte so in Erinnerung bleiben, das die Menschen, die an Sie dachten, fröhlich an Sie dachten. Und genau das sollte er auch bekommen.

Vorsichtig liess sie seine Hand los, und nahm seinen Laptop. Sie las, was er geschrieben hatte. Sie hatte keine Ahnung von diesen Themen, aber für sie war jedes Wort, ob gesprochen oder geschrieben, wertvoll. Und so fing Sie an zu lesen....

Autor:

Claudia Jacobs aus Mülheim an der Ruhr

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