Kindheitserinnerungen

Veränderungen 11.07.2012

Nach der Vertreibung aus Schlesien im Jahr l946 und der Ankunft von uns Dreien 1947 in Weeze, dem Heimatort meiner Mutter, bestand unser Zuhause für drei Jahre aus einem Zimmer, das die Behörden meinen Eltern zuwiesen. Wir besaßen keine irdischen Güter, aber Zuwendung, Nestwärme und Innigkeit bekam ich in Hülle und Fülle. Ich genoss die Enge der Behausung und die Nähe zu meiner Familie.

1950 – kurz vor meiner Einschulung – wurde die erste Etage eines Hauses frei, das mitten im Ort stand. Die Miete war günstig, weil WC und Wasseranschluß fehlten. Diese Dinge galten damals als Luxus, der nicht unbedingt zur Ausstattung einer Wohnung gehörte. Wie meine Mutter diese Probleme löste, bleibt mir ein ewiges Rätsel. Der Umzug ging schnell über die Bühne; es gab nicht viel zu transportieren. Nur beim Klavier meines Vaters schwitzten die beiden Helfer, weil die Treppe so schmal und ihre Angst so groß war, das Ungetüm fallen zu lassen.
Die Stunden mit meinem Vater an diesem Instrument, dem er so wunderschöne Melodien entlockte, gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen.

Da ich schon 6 Jahre alt war, betraute meine Mutter mich mit kleinen Aufgaben.
Unser Familienleben fand in der Küche statt, weil nur dieser Raum geheizt werden konnte. Um den alten weißen Herd anzustochen, der dann im Nu so wohlige Wärme verbreitete, brauchte sie besonderes Material.
Sie rief mir zu: „Ich hab` keine Krollen mehr“!
„Krollen“ ist Weezer Dialekt und heißt „Locken“ – gemeint sind hier Hobelspäne.
Ich wusste, was dieser Ruf bedeutete.

Schon holte sie den ollen Sack hervor, mit dem sie mich in die nahegelegene Schreinerei schickte. Den Inhaber kannte sie schon aus der Kinderzeit. In dem Betrieb duftete es herrlich. Ich liebte diesen herben harzigen Geruch, obwohl ich nicht gerne mit dem verschlissenen Sack loszog. Aber mein Vater machte aus allem ein Spiel. Er blieb oben am Treppenabsatz stehen und sagte: „mal sehen, ob Du diesmal auch so schnell bist wie zuletzt", und dazu nahm er unseren abgegriffenen Wecker in die Hand. Oder er empfing mich bei meiner Rückkehr mit meiner Mütze auf dem Kopf. Manchmal malte er sich einen Schnurrbart aus Ruß und schnitt Grimassen, wenn ich wieder erschien. Immer ließ er sich etwas einfallen. Er merkte, dass mir der Gang überhaupt keine Freude machte.

Ich war 8 Jahre alt und stand schon wieder in der Schreinerei und bat um Krollen, die ich mir selbst zusammensuchen durfte. An diesem Tag blieb ich ganz ruhig an der Tür stehen. Die 4 Männer dort guckten erstaunt. Ich verhielt mich still und war entsetzt, weil ich auf einmal merkte „ich stehe hier als Bettlerin. Zuhause erzählte ich sofort von meiner Not. Und meine wunderbare und so praktisch veranlagte Mutter wusste sofort eine Lösung. Sie nahm 4 lose Zigaretten aus der Gold-Dollar-Dose meines Vaters und schickte mich erneut los. Freudestrahlend kam ich wieder heim.
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In Zukunft machten wir das jedes Mal so, und ich war zufrieden.

Alles war gut.

Rita

Autor:

Rita Dietrich aus Düsseldorf

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