So viele Kranke - die Gaskammer reicht nur für 50

17. Juni 2012
18:00 Uhr
Theater miniart, 47551 Bedburg-Hau
Anne Lehnkreing - ermordet in Grafeneck. | Foto: Rheinische Kliniken, Theater miniart
  • Anne Lehnkreing - ermordet in Grafeneck.
  • Foto: Rheinische Kliniken, Theater miniart
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„Wir haben uns in Berlin beschwert. So viele Kranke sind für uns eine harte Probe. In die Gaskammer passen ja nur 50“.

Crischa Ohler und Sjef van der Linden stehen auf der Bühne ihres Kinder- und Jugendtheaters „miniart“. Vor der Premiere steht eine der letzten Proben an. Das neue Stück „Ännes letzte Reise“ greift das grausamste Stück Geschichte der Rheinischen Kliniken auf.

Jene Zeit, in der Hitler die Macht innehatte. Jene Zeit, in der Millionen Menschen ermordet wurden. Einer von ihnen war Anne Lehnkering. Ihre Geschichte gehört - wie viele andere auch - zur 100-jährigen Klinikgeschichte. Diese Menschen dürfen nicht vergessen werden - für Sjef van der Linden und Crischa Ohler Grund genug, diesem einen Leben nachzuspüren, es in Worte und Szenen zu fassen, diesem Leben eine Stimme zu geben, die berührt.

Am 7. März 1940 erreicht der Zug aus Bedburg-Hau Marbach nahe Grafeneck - Ännes letzte Reise. Es soll die erste und letzte Reise der jungen Frau sein, die 1915 in Sterkrade zur Welt kam. Die Eltern betreiben eine Gastwirtschaft, der Vater ist an der Front, freiwillig. Die Mama freut sich nach zwei Söhnen über die Geburt der Tochter. Als der Vater aus dem Krieg heimkehrt, beginnen schwierige Zeiten. Änne, ein offenbar sehr sensibles Kind, kommt nachts verängstigt ans Bett der Mutter, kehrt der realen Welt mehr und mehr den Rücken, verliert durch einen Sturz in ein Gebüsch ein Auge. Alles ist nur noch halb, auch Änne. Sie besucht die Hilfsschule, lernt sehr langsam - und wird zwischendurch auch den Brüdern eine Last. Der Vater stirbt, die Mutter heiratet erneut. Die Nazis streben nach der Macht. Wer minderwertig ist, bestimmt die Partei, wer zwangssterilisiert wird das Gesetz. Änne muss sich im Krankenhaus melden, wird zwangsoperiert.

Ein anderer Ort, ein anderer Arzt, Hüter des Lebens. Er fällt die psychiatrische Diagnose. Unmissverständlich. Diktiert. Schreibt fest. Seine Worte werden in Akten gebannt. Sind nicht zu löschen. Sind abrufbar von Mitarbeitern des Gesundheitsamtes. Es folgt die Einweisung nach Bedburg-Hau, Provinzial- und Heilanstalt. Heimweh, Sehnsucht nach der Mutter. Briefe. Und immer wieder Fragen: Warum besuchst Du mich nicht? Warum nimmt mich niemand in den Arm? Sie sagen, sie hätten keine Zeit dafür.“

Ein weiterer Tag. Männer in Uniform kommen aus Berlin. Unruhe, Hektik herrschen in der Klinik. Sie fordern „die Liste“. Der Mann, der sie bringt und später wieder abholt: „Es waren lauter rote Kreuze drauf. Bei ungefähr der Hälfte unserer Patienten.“ Auch hinter Ännes Namen steht ein Kreuz, auch sie gehört zu denen, die binnen einer Frist von fünf Tagen weggebracht werden müssen. Nach Grafeneck. Dorthin, wo Ärzte mit dem Tod experimentieren. Wo Ärzte Injektionen für zu arbeitsaufwendig halten. Wo Ärzte Giftgas ausprobieren. Es einsetzen. Menschen vergasen, auch Änne. Ihre Puppe wird zu einem letzten Symbol. Darf sich die Geste der Krankenschwester, die der jungen Frau in der Gaskammer die Puppe in den Arm drückt, Menschlichkeit nennen?

Der Mensch, der am Ende vor seinen Richtern steht, jener, der Gas und Injektion als humanitäre Geste verteidigt, er fragt seine Richter nach dem Warum seines Todesurteils. Tod durch den Strang.

Crischa Ohler und Sjef van der Linden bringen mit „Ännes letzte Reise“ ein bewegendes Stück Zeitgeschichte auf die Bühne. Man nimmt ihnen ihre Rolle ab, wird unversehens in dieses erschütternd erzählte Leben verwoben. Ein Stück, das zum Nachdenken anregt: Über Mut, auch den eigenen, über Verzeihung und Wut, über das Mitlaufen und das Anderssein. Über die Menschlichkeit. Zu empfehlen für Menschen ab 14.

Aufgrund der großen Kartennachfrage wird am Sonntag, 17. Juni, um 18 Uhr eine Sondervorstellung gegeben. Karten können unter Tel. 02821/81 15 70 oder per e-mail: info@mini-art.de vorbestellt werden.

Regie: Rinus Knobel
Text: Knobel/Ohler/van der Linden
Biografisches Material: Sigrid Falkenstein
Spiel: Crischa Ohler, Sjef van der Linden
Bühnenbild: Crischa Ohler
Projektionen: Ulrike Oeter
Kostüme: Sandra Nienhaus
Tonaufnahmen: Sjef van der Linden
Technik: Klaus Brendel
Theaterfotos: Bas Marien
Plakatentwurf: Irma Jeckel (Motiv: Ulrike Oeter)
Theaterbüro: Geli Gathmann

Autor:

Annette Henseler aus Kleve

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