Jetzt mal Hochdeutsch 5

Altersbedingt ?

„Das ist bestimmt Alzheimer“ sagte meine beste Freundin, „alle Symptome sprechen dafür: Ich verpasse einen Arzttermin, ich suche dauernd meine Brille. ich weiß nicht mehr, wer 1923 den Medizin-Nobelpreis bekommen hat, obwohl ich schon senkrecht die letzten drei Buchstaben hatte, ich weiß nicht mehr, wie der Koch in Verbotene Liebe heißt und neulich kam ich nicht auf den Markus Lanz…“
Hilde ist 76, kümmert sich liebevoll um ihren 5jährigen Enkel, erträgt mit Gleichmut dessen 14jährige Schwester und bekocht beide, weil die Eltern gut im Geschäft sind. Sie wird in allen familiären Belange und Veranstaltungen einbezogen, aber „sie lebt allein!“
Montags ist Nordic Walking am Rhein angesagt, Dienstag besucht sie den verblichenen Gemahl und danach auch noch ihre beste Freundin im Seniorenstift, Mittwoch ist dem Diskussionsfrühstück der früheren Töpfergruppe vorbehalten, freitags ist Sitztanz im Seniorenstift – immer und alles für zwei Stunden am Vormittag. Danach Hausarbeit, kleine Gartenarbeiten und Späßkes mit dem Lieblingsenkel.
Wenn dann die Tochter ihre Brut übernimmt, ist Hilde einsam und ausgegrenzt und schläft oft zu James Last oder ähnlich aufputschenden Rhythmen für ein Viertelstündchen ein, bevor das Pflichtprogramm an zumeist lästigen weil überflüssigen Telefongesprächen absolviert wird.
Fürwahr, das sind bedenkliche Anzeichen.
Mit 76 war man zu meiner Kinderzeit schon acht Jahre tot, mit 60 sah man aus wie heute mit 102. Um Nobelpreise scherte man sich überhaupt nicht, und weil man den Namen, z.B. des Gemahls immer wieder vergaß, nannte man ihn einfach „liebe Jung.“ Es war durchaus gestattet, ein wenig „verkalkt“ zu sein, ein wenig tüddelig, solange man nicht groß auffällig wurde. Vor ein paar Jahren hatte hier beim Frauenkarneval ein 40jähriges Mitglied des Seelsorgeteams große Erfolge – offen gestanden wegen seiner Hose.
Demenz, Alzheimer sind wirkliche Bedrohungen, die oft mit dem Alter einhergehen und an deren Behandlung und am Umgang mit deren Folgen sich eine Gesellschaft messen lassen muss. Doch es gibt auch Hoffnung für Viele: nicht jedes ungelöste Kreuzworträtsel, jede verlegte Brille oder jeder entfallene Promi ist ein Symptom.

Autor:

Paul Scharrenbroich aus Monheim am Rhein

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