Rotglühend

Es war dunkel geworden. Er musste stundenlang hier am Küchentisch gesessen haben, das Gesicht in den Händen vergraben.

In der Wohnung war es ruhig. Seine Frau und die Kinder waren schlafen gegangen. Er stand auf und sah sich in der Küche um. Ein Stuhl war umgefallen, Scherben lagen auf dem Boden. Stumme Zeugen der Eskalation und Gewalt.

Leise ging er über den Flur, öffnete vorsichtig die Tür des Kinderzimmers. Das kleine Notlicht in der Steckdose leuchtete spärlich. Gerade hell genug, dass er seine schlafenden Töchter anschauen konnte. Wie immer nach solchen Szenen, lagen sie zusammen in einem Bett. Die Große hielt die Kleine fest im Arm, als wolle sie sie beschützen. Auf ihren Wangen die Spuren getrockneter Tränen. Seine Große! Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, zog jedoch erschrocken die Hand zurück, als sie im Schlaf zusammenzuckte. Tränen traten ihm in die Augen. Er hatte das Recht verspielt, zu seinen Töchtern zärtlich zu sein. Was war er nur für ein Vater?!?

Auf Zehenspitzen, um sie nicht doch noch zu wecken, verließ er den Raum. Er wollte nur noch schlafen. Die letzten Stunden vergessen. Doch die Tür des Schlafzimmers war verschlossen. Sie hatte ihn ausgesperrt. Na gut – würde er eben im Gästezimmer schlafen. Wie so oft. Wie eigentlich immer, nach solchen Abenden.

Ohne sich auszuziehen legte er sich hin, doch er kam nicht zur Ruhe. Bittere Reue und tiefe Scham überwältigten ihn, wenn er an das dachte, was geschehen war. Er sah die verängstigten Gesichter seiner Töchter, hörte die Schreie seiner Frau – und seine eigenen. Wenn er nur wüsste, wie er diesen Kreislauf von Wut und Gewalt durchbrechen konnte. Er wusste nur, dass es so nicht weitergehen durfte.

Er konnte nicht einmal sagen, woran es lag, Was es war, das diese Wut auslöste. Ein Krümel auf der Herdplatte, eine Tasse, die nicht in die Spülmaschine geräumt war, ein schlechtgebügelter Hemdkragen – alles Nichtigkeiten. Und doch reichten sie aus. Man konnte die Wut förmlich sehen. Rotglühend! Die Stimme wurde laut. Fordernd, anklagend. Überschlug sich fast, wenn keine Antwort kam. Diese ängstliche, geduckte Haltung steigerte den Zorn ins Unendliche. Das Schreien brachte keine Erleichterung – der erste Schlag war beinahe befreiend! Danach vergaß er alles um sich herum. Erwachte erst Stunden später wie aus einer Trance. Wenn in der Wohnung alles still war, wenn alle schliefen.

Wenn er aus dem Haus ging, sah er die verstohlenen Blicke der Nachbarn. Sah die Verachtung in ihren Augen. Meistens kümmerten sie sich nicht. Nur wenn es zu laut wurde, dann riefen sie die Polizei. Bis jetzt hatten sie immer noch abwiegeln können, so dass die Beamten unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten. Er spürte, dass man ihm nicht glaubte. Er sah die Skepsis in ihren Gesichtern. Doch ohne Anzeige konnten sie nichts machen. Vor einigen Wochen hatte ihn einer der Beamten beinahe mitleidig angeschaut und ihm eine Visitenkarte in die Hand gedrückt. Er hatte nur einen Blick darauf geworfen und sie dann achtlos eingesteckt.

Einige Male hatten sie ins Krankenhaus fahren müssen. Auch bei den Ärzten stießen die Ausreden auf Unglauben. Wie oft sie das wohl schon gehört hatten? Die Treppe heruntergefallen, an der offenen Schranktür gestoßen, versehentlich den Topf mit dem heißen Wasser vom Herd gerissen. Er wusste, sie hätten gerne geholfen. Doch ihnen waren die Hände gebunden. Seine Frau und er schafften es immer wieder, sie zu überzeugen, dass es sich nur um Unfälle handelte.

Meistens konnten sie nach einer ambulanten Behandlung wieder nach Hause gehen. Ganz selten wurde ein mehrtägiger Aufenthalt daraus. Danach kamen wieder die Versprechen: „Ich ändere mich! Verzeih mir, das wird nie wieder vorkommen! Ich werde mir Hilfe suchen! Bitte, verlasst mich nicht! Ich liebe euch doch – dich und die Kinder!“

Er hasste sich dafür! Doch in diesen Momenten glaubte er jedes Wort. Glaubte, dass sich etwas ändern würde. Bis zum nächsten Wutanfall. Bis zum nächsten Gewaltausbruch. Wie viele Jahre ging das nun schon so? Und es änderte sich nichts!

Aber wie konnte es das auch? Es lag an ihm! Es war seine Schuld! Nur er konnte etwas ändern. Und er wusste, dass das bald geschehen musste. Immer noch sah er die erhobene Hand, sah seine große Tochter, die schützend ihre Arme vor das Gesicht hielt – und hörte den Schrei: „Nicht das Kind!“ Dieses Mal hatte es geholfen – die erhobene Hand hatte sich wieder gesenkt. Doch was, wenn es demnächst nicht mehr funktionierte? Wenn seine Kinder die Gewaltausbrüche nicht mehr nur mit ansehen mussten, sondern auch die körperliche Gewalt zu spüren bekamen? Was sie ihren Seelen in den vergangenen Jahren angetan hatten, darüber mochte er gar nicht nachdenken.

Es musste etwas geschehen! Mit diesem Gedanken schlief er endlich ein.

Wie gerädert erwachte er am nächsten Morgen. Sein Kopf schmerzte, sein Magen rebellierte – aber sein Entschluss war gefasst. Als er in die Küche kam, schien alles wie immer. Die Spuren der gestrigen Attacke waren beseitigt, die Kinder frühstückten schon und seine Frau sah ihn an – mit diesem beinahe unterwürfigen Lächeln, das er schon kannte.

Flüchtig erwiderte er es, trank seinen Kaffee und verließ das Haus. Pünktlich, wie immer! Doch dieses Mal ging er nicht zur Arbeit.

Er sah an dem Gebäude hinauf und verglich die Adresse mit der auf der Visitenkarte. Doch schon das Schild neben der Tür sagte ihm, dass er hier richtig sei. Er nahm all seinen Mut zusammen, wappnete sich innerlich gegen das, was jetzt auf ihn zukommen würde – und stieß die Tür auf.

Er betrat das Büro und ging mit raschen, energischen Schritten auf den Mann hinter dem Schreibtisch zu. Dieser sah ihm entgegen. Und obwohl er sicherlich wusste, weshalb er hier war, lag weder Verachtung noch Häme in seinem Blick. In diesem Moment spürte er, wie sich in seinem Inneren etwas löste – und endlich, endlich konnte er es sagen!

„Guten Morgen! Mein Name ist Peter R. – und meine Frau schlägt mich!“

© Siglinde Goertz

Autor:

Siglinde Goertz aus Uedem

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