Inklusion: In der Kita klappt es, in der Schule nicht

Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2006 verabschiedet. Sie setzt sich dafür ein, dass die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen aufhört und sie als vollwertige Bürger in der Gesellschaft anerkannt werden. Die Konvention fordert die Inklusion, also die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Deutschland und 170 weitere Länder haben sich verpflichtet, das umzusetzen. In Deutschland leben etwa zehn Millionen Menschen mit einer Behinderung, das sind etwa 13 Prozent der Bevölkerung. Doch in der Praxis zeigt sich oft: Was in den Kindertageseinrichtungen bei den Kleinen funktioniert, ist im Schulalltag die Ausnahme. Darüber sprach beim Elterntreff Dr. Fabian van Essen, Vertretungsprofessor „Behinderung und Inklusion“ an der Hochschule für Gesundheit in Bochum.

Am Beispiel der beiden Jungen Leon und Lukas zeigte er die verschiedenen Lebenswege von Kindern mit und ohne Handicap auf. Lukas ist gesund und besucht zunächst gemeinsam mit Leon, der ein Down-Syndrom hat, den integrativen Kindergarten. Die beiden Jungen spielen und lernen zusammen. Doch bereits in der Grundschule verändert sich das Bild und spätestens mit dem Wechsel zur weiterführenden Schule verlieren sich nicht nur die beiden Kinder aus den Augen. Während Lukas das Gymnasium besucht, Abitur macht und ihm die Wahl unter über 18.000 Studiengängen offen steht, er danach einen Beruf findet und Geld verdient, besucht Leon die Werkstätten für Behinderte und entscheidet sich zwischen den elf verschiedenen Arbeitsbereichen. Er wohnt später in einem Wohnheim für Behinderte und als sich beide zufällig treffen, erkennt Lukas den früheren Spielkameraden nicht mehr.
„Nicht in jedem Land gehen die Lebensperspektiven von Menschen mit und ohne Handicap so auseinander wie in Deutschland. Das liegt unter anderem daran, dass wir hier ein abschlussbezogenes Schulsystem haben, in welchem die Vielfalt der Kinder kaum eine Chance auf individuelle Förderung hat“, so van Essen. Die Kindertageseinrichtungen seien eigentlich der Vorreiter für Inklusion, denn sie orientieren sich an der Vielfalt der Kinder, die sie besuchen. „Es gibt Studien, die belegen, dass die Zahl der Kinder mit Förderbedarf in der Regelschule gestiegen ist. Aber die Zahl der Kinder in den Förderschulen ist nicht gesunken. Man könnte daraus mutmaßen, dass es für Regelschulen förderlich ist, zusätzliche Ressourcen, zum Beispiel durch Integrationshelfer, abgreifen zu können.“
Studien belegen auch, je höher das Bildungsalter wird, desto homogener werden die Kindergruppen. Menschen mit Behinderungen sind in der weiterbildenden Regelschule am geringsten vertreten. „Die Frage der Förderung der Kinder orientiert sich in der Regelschule an festen Abschlüssen. Alle machen 45 Minuten Mathe mit dem gleichen Ziel. In der Kita hingegen lässt man die individuellen Bedürfnisse zu.“ Van Essen beschreibt die verschiedenen Möglichkeiten von Exklusion (Ausgrenzung), Separation (Abgrenzung), Integration (Anpassung an die homogene Mehrheit) und Inklusion (Vielfalt annehmen).
Doch ein abschlussorientiertes Schulsystem mit begrenzten personellen Ressourcen stößt hier an seine Grenzen. Vor allem in der frühen Trennung der Kinder nach der vierten Klasse sieht van Essen ein weiteres Problem. Doch längeres gemeinsames Lernen aller muss vom Elternwillen, der Politik und der Gesellschaft getragen werden. „In Hamburg gab es einen Versuch des längeren gemeinsamen Lernens. Die Eltern wollten das nicht. Und bei der Abstimmung hat man gesehen, dass es vor allem sehr bildungsnahe Schichten waren, die dies nicht wünschten.“

Es fehlt an Geld und Personal

Gewiss, und hier sind sich alle einig, es stecken grundsätzlich zu wenig Ressourcen im System. Gemeint sind vor allem Geld und Personal. Darum bleibt für viele Teilnehmer die Umsetzung der Inklusion auch eine politische Augenwischerei. „Förderschulen, die eine festgelegte Schülergrenze unterschreiten und nicht den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung anbieten, werden geschlossen, weil die Politik das Recht des Kindes mit Handicap zum Besuch der Regelschule betont. Aber die Förderschulen leisten einen wertvollen Beitrag und fördern die Kinder oft viel besser. An vielen Regelschulen gehen Kinder mit Handicap einfach nur unter“, sagt eine Mutter. Weil eben die Ressourcen nicht ausreichen…
Während es in der Kita selbstverständlich ist, dass Fragen zur Behinderung auftauchen, die auch beantwortet werden, ist dies mit zunehmendem Alter anders. Man schaut weg, ist unsicher und weiß nicht, wie man „mit ihnen“ umgehen soll. „Es gibt die Kontakt-Hypothese, die besagt, dass man weniger Ängste hat, wenn man etwas Fremdes kennenlernt. Doch wenn Menschen mit und ohne Handicap nicht gemeinsam lernen und leben, dann wird das schwierig“, so van Essen.
Sicherlich, es habe sich durchaus in der Wahrnehmung in der Gesellschaft etwas geändert. Früher habe man beispielsweise in Wetter die Bewohner der Evangelischen Stiftung Volmarstein im Stadtbild nicht gesehen. Das sei heute anders. Auch die im Volksmund vorhandenen diskriminierenden Etiketten wie „Krüppelanstalt“ oder „Sonderschule“ gehörten in der Regel der Vergangenheit an, merkt ein weiterer Teilnehmer an. Aber, und hier sind sich erneut alle Teilnehmer einig, die Gesellschaft muss Inklusion leben (wollen), um die Vielfalt der Kinder auch nach der Kita zu erhalten. Und dazu braucht es einen sehr langen Atem…

Kontakt: Viele Fragen beantwortet das Hattinger Bündnis für Familie, Bahnhofstraße 48, 45225 Hattingen, Juliane Lubisch, Telefon 02324/204-4232 oder j.lubisch@hattingen.de oder Melanie Becker, Telefon 02324/204-4219 oder m.becker@hattingen.de. Dr. Fabian van Essen ist zu erreichen an der Hochschule für Gesundheit in Bochum, Telefon 0234/ 77727-716 oder E-Mail fabian.vanessen@hs-gesundheit.de. Er wurde 2012 mit dem Nachwuchspreis des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft ausgezeichnet für seinen Aufsatz „Auf der Suche nach eienr Perspektive für das Leben“. Der Aufsatz ist eine Kurzfassung seiner Dissertation „Soziale Ungleichheit, Bildung, Habitus. Eine Studie zu den Möglichkeitsräumen ehemaliger Förderschüler.“

Nächster Elterntreff: Mittwoch, 15. März, 19 bis 20.30 Uhr, Altes Rathaus, "Mein Kind ist besonders" (Kinder mit Entwicklungsverzögerungen. Es referiert Dr. Ulf Hustedt, Chefarzt der Neuropädiatrie, Helios Klinik Hattingen

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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