Superintendent Hans-Joachim Wefers zum Lockdown in den evangelischen Kirchen
"Es gibt hier kein eindeutiges 'Richtig' oder 'Falsch', es gibt hier kein 'besser' oder 'schlechter'!"

Hans-Joachim Wefers, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Kleve. | Foto: privat (Bearbeitung: dibo)
  • Hans-Joachim Wefers, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Kleve.
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Die aktuelle Corona-Situation verlangt auch den Kirchen und ihren gläubigen Schäfchen viel ab. Das wissen auch die Verantwortlichen, deshalb wendet sich Superintendent Hans-Joachim Wefers mit einem offenen Brief an alle Gemeindeglieder. Darin formuliert er ...

Liebe Mitglieder der Presbyterien im Kirchenkreis Kleve,
Liebe Schwestern und Brüder,

Gemeinsam stehen wir angesichts der Corona-Lage, des harten Lockdowns und des bevorstehenden Weihnachtsfestes vor einer sehr schwierigen Entscheidung:Sollen Präsenzgottesdienste egal, ob in Kirchen, Hallen oder draußen noch durchgeführt werden, oder kurzfristig abgesagt werden?
Am Montagabend hat dazu eine Videokonferenz der Kirchenleitung der EKiR mit den Superintendent*innen stattgefunden, darin wurde deutlich: Von Seiten der EKiR wird es zwar Hinweise und Prüfkriterien geben, vielleicht auch noch einen Brief des Präses, aber aller Voraussicht nach keine verbindlichen Regelungen.

Um allen Presbyterien die Entscheidung dennoch zu erleichtern, möchte ich als Superintendent des Kirchenkreises gleichwohl eine eigene Stellungnahme zu dieser Frage abgeben und dies begründen – wohl wissend, dass das, was jetzt geschrieben und gesagt ist, schon am Abend desselben Tages „überholt“ oder „falsch“ sein kann, da wir uns in einer sehr dynamischen Lage befinden.

Hier meine Stellungnahme:
Grundsätzlich halte ich sowohl die Durchführung von präsenten Gottesdiensten als auch ihre Absage für gut begründbar, vertretbar und verantwortbar. Und egal, wie man entscheidet: „Moralische Keulen“ gegen die Einen oder die Anderen sind in jedem Fall unangebracht! Weder handeln die Einen per se verantwortungslos, wenn sie präsente Gottesdienste durchführen wollen, im Gegenteil: Sie verdienen unseren Respekt, wenn sie – vielleicht stellvertretend für die evangelische Kirche in der Region – ihre Kirchen öffnen und die Mühe eines unter den derzeitigen Bedingungen durchgeführten präsenten Gottesdienstes auf sich nehmen.

Noch handeln die Anderen verantwortungslos, wenn sie aus Gründen des Gesundheitsschutzes einen Gottesdienst absagen. Im Gegenteil, auch sie verdienen unseren Respekt, dass sie das von allen so sehr geliebte und hohe Gut der Gottesdienstfeier – selbst an Weihnachten - dafür „opfern“. Sie nehmen damit - theologisch formuliert - an der „Selbstentäußerung“ Jesu Christi teil, der seinerseits den gemütlichen Platz im Himmel tauschte mit dem Stall von Bethlehem – uns zugute. Der Verzicht auf Gottesdienste kann insofern ebenso „klare und sehr weihnachtliche Verkündigung“ sein, wenn man den Verzicht genau so begründet und öffentlich kommuniziert!

Ich werbe daher für eine respektvolle und in diesem Sinn „moralfreie“ Diskussion im Angesicht des Bruders und der Schwester im Glauben, die die Dinge genau anders herum sieht als ich selbst. Sie darf ihre Meinung haben, und ich bin mit meiner nicht „besser“, klüger“, gläubiger“ oder „richtiger“. Es gibt hier kein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“, es gibt hier kein „besser“ oder „schlechter“. Es gibt hier nur eine ernsthafte Güterabwägung (!) – und am Ende am besten eine im kirchlich-evangelischen Sinne „einmütige“ Entscheidung, einschließlich des Risikos, dass diese sich im Nachhinein als „falsch“ erweist. Aus diesem Dilemma kommt niemand heraus: Der Präses nicht, ich nicht, und auch kein Presbyterium.

Daher würde ich als Superintendent beide Entscheidungen mittragen und mit „verteidigen“ gegen interne und externe Kritiker*innen. Darauf können sich alle verlassen, egal welche
Entscheidung sie verantwortlich und nach ausführlicher Abwägung von „Pro“ und „Contra“ treffen.
Unter dieser Prämisse sehe ich die Dinge im Detail so:
1. Ich halte die Durchführung von Präsenzgottesdiensten – derzeit noch - für vertretbar, verantwortbar und begründbar. Die Gemeinden verfügen über bewährte und detaillierte Konzepte zur Einhaltung aller Vorschriften. Sie haben bisher sehr verantwortlich gehandelt und nachweislich alle Regeln konsequent eingehalten. Dies erkennt auch die Politik an, in dem sie den Religionsgemeinschaften auch nach den neuesten Beschlüssen die „Religionsausübung“ in eigener Verantwortung überträgt! Und: Präsente Gottesdienste können eine wichtige tröstende, stärkende, vergewissernde und orientierende Wirkung haben für viele. Und in Ihnen wird öffentlich die Botschaft laut, um die es geht: Fürchtet Euch nicht. Gott ist da! Er wird sogar Mensch! Er setzt sich allem Menschlichen bis hin zum eigenen Tod am Kreuz aus. Und er tut all dies aus Liebe zu uns! Und zu unserer Rettung! Wer, wenn nicht wir, soll das an Weihnachten öffentlich verkünden? All dies brauchen wir, gerade an Weihnachten, gerade jetzt.

Allerdings muss jedes Presbyterium, das dies beschließt und durchführen möchte, angesichts der Verantwortung für die Nichtausbreitung des Virus, die wir zusammen mit der ganzen Gesellschaft haben, Folgendes bedenken: 

  • Es müssen penibel genau die jeweils aktuellen (!) politischen Vorgaben eingehalten und in der praktischen Umsetzung garantiert werden! Ein Diktum unseres Präses lautet: „Beschlossen“ ist noch nicht „umgesetzt“. Auf die wirklich garantierte Umsetzung (!), nicht die „Beschlusslage“ kommt es aber an!
  • Es muss auch berücksichtigt werden, dass sich die politischen Vorgaben noch tagesaktuell durch den Landkreis Kleve oder Wesel per Allgemeinverfügung bei hohen Inzidenzzahlen noch am 23.12. ändern können! Für diesen Fall muss in einem jetzigen Beschluss eine Vorsorge getroffen sein (Wenn das und das gegeben ist, dann machen wir das und das …). Oder eine sehr kurzfristige weitere Presbyteriumsrunde anberaumt werden.
  • Vor allem für präsente Gottesdienste draußen ist eine – ggf. erneute – Zustimmung des örtlich zuständigen kommunalen Amtes einzuholen, um auf der politisch sicheren Seite zu sein.
  • Berücksichtigen muss man schließlich auch, dass ein Leitungsorgan mit seinem Beschluss auch über und für Andere entscheidet und sie „nötigt “, sich einem Risiko auszusetzen, dass diese persönlich vielleicht nicht eingehen woll(t)en: Küster, Musiker*innen, ehrenamtliche Mitwirkende, Pfarrer*innen. M. E. ist eine derartige „Nötigung“ durch andere eine schwere Hürde und der Verweis auf Pflegekräfte und Ärzte in Kliniken, „die auch ran“ müssen, zieht am Ende nicht: Denn ein Gottesdienst ist, anders als ein Pflegedienst oder eine ärztliche Behandlung, nicht lebensnotwendig. Einen Gottesdienst kann man auch lassen, ohne dass jemand stirbt.

Mir wäre es daher am liebsten, Presbyterien reden vor einer Entscheidung mit den betroffenen Mitarbeitenden einschließlich ihrer Pfarrer*innen. Wenn diese Ihre Mitwirkung ohne Probleme zusagen – wunderbar. Wenn nicht, sollte man sehr sorgfältig damit umgehen! Moralische Verurteilungen und Bewertungen von Ängsten anderer sind auch hier deplatziert. Wenn nicht genügende Mitwirkende „frei“ mitwirken können, kann das aus meiner Sicht tatsächlich das „Aus“ des Gottesdienstprojektes bedeuten. Und das kann heute, morgen oder übermorgen auch noch anders aussehen als am 23. Dezember.

2. Ich halte auch eine Absage aller Präsenzgottesdienste einschließlich Heiligabend für gut vertretbar und begründbar. Man nimmt damit die gesellschaftliche Verantwortung für das Gemeinwohl in besondere Weise wahr, minimiert Ansteckungsrisiken und verhält sich im Sinne der staatlichen Appelle zur Kontaktbeschränkung auch über das „verordnete“ Maß hinaus auch vorbildlich und „zeugnishaft“- angesichts von knapp 28.00 Neuinfizierten und 952 Corona-Toten an einem Tag. Man zeigt sich auch solidarisch mit den vielen anderen Betroffenen, die ebenso schwere wirtschaftliche und existentielle Beeinträchtigungen durch die Corona-Krise erleiden. Meine persönlichen Lippen, mit denen ich da auf „Religionsfreiheit“ und „Verkündigung“ pochen wollte, verschließen sich angesichts dieser Situation immer mehr und verstummen ganz. Denn auch der Verzicht auf die maximale Durchsetzung eigener Rechte, wie Jesus selbst es auch praktiziert hat, kann wahrnehmbare Verkündigung in die Gesellschaft hinein sein (siehe oben).

Man wäre damit gar in guter Gesellschaft: Die Kirchenleitung unserer westfälischen Nachbarkirche hat zwischenzeitlich eine generelle Empfehlung an ihre Kirchengemeinden ausgesprochen, auf alle Präsenzgottesdienste vom 4. Advent bis Silvester zu verzichten.

Und der Verzicht auf präsente Gottesdienste heißt auch nicht per se, die (gläubigen) Menschen im Stich zu lassen. Es geht ja nicht um den Ausfall der Verkündigung, sondern um die Form der Verkündigung. Die Form kann auch digital sein, sie kann auch durch die Bereitstellung und Ausarbeitung von Andachten und Ansprachen in Papierform geschehen. Die Kirchentüren können durchaus offen gehalten werden (!) und eine Pfarrerin oder ein Pfarrer und/oder weitere Menschen aus der Gemeinde können dort zum Gespräch und auch spontanen Gebet und Lesen der Weihnachtsgeschichte o. ä. anwesend sein.
Und am Ende hat es von je her zum protestantischen Selbstverständnis gehört, auch ohne Pfarrer*in zu Hause die Bibel aufzuschlagen, die Weihnachtsgeschichte in der Familie zu lesen, zu beten und vielleicht gar „O du fröhliche“ zu singen.

Und hier dürfen auch in der Öffentlichkeit Unterschiede zwischen christlichen Kirchen bzw. Konfessionen wahrgenommen werden, ohne dass dies „schlimm“ wäre: Katholiken messen insbesondere der (wirklichen) „Messe“ unter der Leitung eine Priesters tatsächlich eine größere und entscheidendere Bedeutung bei als Protestanten es tun. Für diese war seit der Reformation der Gedanke des allgemeinen Priestertums, in das jede und jeder Getaufte eben durch die Taufe eintritt, handlungsleitend. Daher kann eigenverantwortlich auch ein „Hausgottesdienst“ gefeiert werden. Warum soll man das nicht sagen können? Wir sind in der Sache Geschwister im Glauben, eben durch die Taufe! Aber wir leben den Glauben hier und da in unterschiedlicher religiöser Praxis – dies und nichts Anderes ist die geschwisterliche Realität und Wahrheit - die muss man nicht verstecken.

Persönliches Fazit:

Es zerrreißt mich selbst! Ich weiß kaum, was das Bessere ist!

Ich habe aber mittlerweile eine persönliche Neigung – und die heißt: Mindestens einiges absagen! Nochmal genau hingucken auf alles, was man geplant hat. Es gibt nicht nur „hopp“ oder „topp“, es gibt auch: „Etwas machen wir, auch als präsenten Gottesdienst, und zwar das mit dem geringsten Risiko. Aber auch: Anderes sagen wir definitiv ab. Denn jeder Gottesdienst, der nicht präsent gefeiert wird, ist ein aktiver Beitrag zum Gesundheitsschutz!
Zugleich gilt: Jeder Gottesdienst, der dennoch präsent gefeiert wird, nachweisbar und öffentlich sichtbar sehr gut „gesichert“, ist – andersherum – auch ein vertretbares, stellvertretendes (!) und
auch insofern wertvolles öffentliches Zeichen: Gott ist da. Er wird Mensch. Wir verkünden und feiern das, hoch verantwortlich. Aber so, dass es auch öffentlich gesehen und gehört werden kann.

Autor:

Lokalkompass Kreis Wesel aus Wesel

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