Die Dichterlesung

Frau Edelgart war eine Dichterin, die ihre Verse mit dem Silberstift schrieb. Denn sie beurteilte die Menschen nach ihrer Handschrift. Und nicht nur in diesem Punkt war sie sehr genau.
„Kann ein Mensch,“ lächelte Frau Edelgart als sei sie in Cellophan verschweißt, „etwas von der Erhabenheit des Lebens wissen, wenn er nicht gebildet ist?“
Und, zur Bildung gehörte eine ausgewogene Handschrift wie die Seele zum reinen Verstand. Da war sich Frau Edelgart „ganz sicher“, wenn sie geziert ihre Ansichten vertrat. Dabei suchte sie sorgfältig nach Worten, die das Wohlwollen ihrer Zuhörer garantierten.
Kurz, Frau Edelgart hatte zur Dichterlesung in den „Tannenhof“ geladen. Zu einem mutig gemusterten Wollkleid trug sie eine mausgraue Stola und eine bestickte Umhängetasche, in der ihre handgeschriebenen Manuskripte steckten.
Natürlich begrüßte sie jeden einzelnen Gast etwas umständlich, aber wie es schien, völlig überrascht und ergriffen mit einem:
„Ohh…“ oder „Nett, dass Sie kommen…!“
Und während ihr der Enkel Julius einen Blumenstrauß überreichte, lächelte Frau Edelgart unter ihren langen, silberdurchwirkten Haaren selbstgefällig, als sei sie es gewohnt im Mittelpunkt zu stehen.
Und schon lag sie in einer huldvollen Umarmung, Küsschen hier und Küsschen da, während sie ihren kaninchenhaften Mund verzog und mit dem dunklen Oberlippenflaum ihre Gäste kitzelte.
Aber bei keiner Umarmung, Küsschen hier und Küsschen da, ließ Frau Edelgart den Eingang des „Tannenhofes“ aus dem Blick. Denn noch wartete sie auf den Lokalreporter, den sie handschriftlich eingeladen hatte:
"Um den Begriff der Wahrheit...", so hatte sie ihm geschrieben, schlugen sich nicht nur Philosophen und Ideologen, sondern auch sie und so weiter und so weiter.
Aber als Frau Edelgart einsehen musste, dass der Lokalreporter nicht mehr kam, verzog sie enttäuscht ihren Mund, als suchte sie nach einem Rezept, das man selbst bei ärztlicher Verordnung nicht einlösen konnte.
Als Frau Edelgart endlich hinter ihrem Lesepult stand, fixierte sie mich durch ihre Bi-fokale-Brille wie ein schwarzes Schaf.
Aber was konnte ich dafür, dass der Lokalreporter nicht kam?

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.