Afrika
Rätselhaftes Selbstbewusstsein - wie Marokko zu einer kontinentalen Machtverschiebung in Afrika beiträgt

Vielen europäischen Staaten - allen voran Frankreich - wird seit Jahrzehnten vorgeworfen, eine Politik zur „Aufrechterhaltung präkolonialer Strukturen“ zu betreiben und somit die Entwicklung Afrikas entscheidend zu behindern. Eine Politik, die sich vermeintlich in unterschiedlichen Facetten ausdrückt, wie etwa das Schüren von Konflikten zwischen verschiedenen ethnischen oder kulturellen Gruppen, Schuldenfalle durch hohe Kreditzinsen, unfaire Investitionsbedingungen oder Ausbeutung von Ressourcen. Vor allem das Verhältnis zu Frankreich gilt als ein verlässliches Barometer dieser Politik.

Dies zu überwinden ist erklärtes Ziel vieler afrikanischer Staaten, die sich dabei auf eigene Stärken und Visionen aber auch auf valide Kennzahlen stützen: Das aktuell höchste Bevölkerungswachstum der Welt macht Afrika im Jahre 2050 mit etwa 2,5 Milliarden Menschen zu einer der wichtigsten Märkte des Planeten. Die natürlichen Rohstoffe Afrikas sind für die Weltwirtschaft von enormer Bedeutung und bieten eine reale Chance für mehr Prosperität. Auch der Technologiesektor wächst rasant. Viele afrikanische Unternehmen haben sich schon heute respektable Positionen erarbeitet, wie etwa in der Mobil-Technologie, in Start-up-Ökosystemen, E-Commerce, Blockchain oder auch in der künstlichen Intelligenz. Auch die Investitionskraft Afrikas wächst und lockt inzwischen auch Schwellenländer der BRICS-Staaten in unterschiedliche Sektoren wie Infrastruktur, Bankensektor und Landwirtschaft. All dies führt zu einer umkämpften Machtverschiebung zwischen Europa und Afrika mit handfesten politischen Konsequenzen.

Neue Distanz zu alten Kolonialmächten

Deutlich lässt sich dies am Verhältnis zur alten Kolonialmacht Frankreich skizzieren. Frankreich hat in den letzten Jahren enorm an politischem und diplomatischem Einfluss in Afrika verloren. 2021 hat der Tschad die französischen Truppen des Landes verwiesen. Die Elfenbeinküste beendete 2020 die Militärpräsenz Frankreichs auf ihrem Staatsgebiet. Ähnlich verhält es sich in Mali, Burkina Faso oder Senegal. Immer mehr afrikanische Staaten suchen eine größere Distanz zur französischen Sprache und Kultur, die nicht selten als ein Instrument postkolonialer Einflussnahme verstanden werden. Im Bereich Wirtschaft gibt es auf den afrikanischen Kontinent längst neue Player wie etwa China oder Russland, die neuen Kooperationen und Realitäten schaffen und sukzessiv an Marktanteilen gewinnen. Im Bereich des wissenschaftlichen Austausches wenden sich viele Menschen seit Jahren dem angelsächsischen Raum zu. Auch einige afrikanische Staaten verdrängen zunehmen das frankophonische Bildungssystem aus den eigenen Lehrplänen.

Ein neues Selbstbewusstsein geht durch den afrikanischen Kontinent und der Einfluss einiger afrikanischer Staaten in internationalen Foren und den Vereinten Nationen wächst. Sie wollen ihre Zukunft selbst gestalten und wenden sich gegen ihre alten Kolonialherren. Ein Paradebeispiel dafür liefert aktuell Marokko.

Diversifizierung und globaler Handel

Das nordafrikanische Land schaut inzwischen auf einen fast 20-jährigen Reformprozess zurück, in dem Marokko seine Wirtschaftssektoren umbaut und erheblich diversifiziert. Der Landwirtschaftssektor sank im Jahre 2000 von 17,6 % auf nur noch 12,3 % in 2021. Im Gegenzug stieg der industrielle Anteil auf 29,2 % in 2021, sowie die Dienstleistungsbranche auf über 58 %. Unter den Top 100 der Automobilhersteller rangiert Marokko inzwischen auf Platz 30 noch vor Australien oder den Niederlanden. Auch verfügt das Land inzwischen über mehrere Produktionsstätten und Unternehmen zur Herstellung von Komponenten der Luftfahrtindustrie insbesondere für die Weltkonzerne Airbus und Boeing sowie mehrere Drehkreuze für den internationalen Flugverkehr zwischen Afrika, Europa und dem Nahen Osten - darunter auch der Flughafen Casablanca mit ca. 10 Mio. Passagieren in 2019.

Marokkanische Banken spielen eine wichtige Rolle in der Bankenbranche Afrikas und haben in den letzten Jahren ihren Einfluss auf dem Kontinent stark ausgeweitet. Sie bieten Finanzdienstleistungen an, die dazu beitragen, die finanzielle Inklusion in Afrika zu erhöhen und die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Kontinent zu fördern. Auch investiert Marokko in wichtige Sektoren verschiedener Länder Westafrikas wie in Energie, Infrastruktur und Landwirtschaft und etabliert sich inzwischen als einer der wichtigsten indirekten Konkurrenten zu Frankreich, Spanien oder Portugal. Mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 4,5 % hat Marokko seine Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union und anderen Ländern gestärkt und seine Integration in den globalen Handel vorangetrieben. Das Land hat eine Anzahl von Freihandelsabkommen abgeschlossen und erhebliche Investitionen in die Infrastruktur getätigt einschließlich in Straßen, Eisenbahnen, Flughäfen, Seehäfen und Stromnetze.

Neue Maxime in Außenpolitik und -handel

Einer der größten Indikatoren für eine aufkommende Machtverschiebung lässt sich jedoch auf dem politischen Paket feststellen. Fast über Nacht hat das nordafrikanische Land seine Außenpolitik neu erfunden und diesen zwei Maximen untergeordnet: Kooperative Win-Win-Situationen und die Anerkennung territorialer Souveränität. Seitdem sind bilaterale Beziehungen unter diesem Gesichtspunkt bewertbar und stehen zum Teil auf dem Prüfstand. Dafür riskiert das aufstrebende Land regelmäßig diplomatische Auseinandersetzungen mit europäischen Mächten wie etwa Deutschland, Frankreich, Belgien und andere. Dafür gewinnt das Land aber auch neue Verbündete und Kooperationspartner wie etwa die Vereinigten Staaten, Israel, die Golfstaaten und zum Teil auch Großbritannien und inzwischen auch Spanien. Auch hat Marokko seine Beziehungen zu vielen afrikanischen Staaten ausgebaut und die kulturelle Zusammenarbeit in Afrika durch die Unterstützung von Kunst- und Kulturprojekten und den Austausch von Künstlern und Intellektuellen vorangetrieben. Flankiert wird dieser Prozess durch weitere gesellschaftliche Veränderungen, wie etwa die zunehmende Urbanisierung, Verbreitung von neuen Technologien und eine liberale Wirtschaftspolitik. Dabei wird mit so mancher tradierten Praxis gebrochen, wie etwa die Vergabe von Staatsaufträgen entlang politischer Beziehungen und diplomatischen Interessen, die in der Vergangenheit zu einer regelmäßigen Bevorzugung der alten Kolonialmächte geführt hat.

Selbstbewusst und zukunftsorientiert

Insgesamt agiert das Land heute wesentlich selbstbewusster, zukunftsorientierter und ist ein gutes Beispiel für eine neue interessengeleitete, identitätsstiftende und selbstbewusste Politik, die zu einer möglichen neuen Balance von wirtschaftlicher und politischer Macht zwischen Afrika und Europa beiträgt. Begründet wird dies durch die teilweise erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung Marokkos in den letzten Jahren, die von Diversifizierung, zunehmender Unabhängigkeit und offene Märkte gekennzeichnet ist. Das Land avanciert zu einer der attraktivsten Volkswirtschaften in Afrika und hat sich als wichtiger Akteur in der Region und in Afrika positioniert. Es betreibt eine aktive und interessengeleitete Außenpolitik, bewährt sich als Stabilitätsanker in der Region und ist in wichtigen internationalen Organisationen und Gremien eingebettet. Neue Maxime des außenpolitischen Handels machen das Land weniger „erpressbar“ und schaffen zugleich neue Ressourcen, Partner und Handelsspielräume. Der europäische Einfluss in einigen afrikanischen Staaten wird sichtbar (aber nur zum Teil) zurückgedrängt, zu Gunsten eines neuen afrikanisches Selbstbewusstsein.

Autor:

Samy Charchira aus Düsseldorf

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