Derendorfer Zeitgeist – 1. Mai 1953 und die Zeit danach...

Derendorfer Zeitgeist – 1. Mai 1953

An diesen 1. Mai denke ich gerade, weil ich ein wenig mehr über meine Derendorfer Zeit und die gemischten Empfindungen schreiben möchte.

Nein, ich mochte Derendorf keineswegs vom ersten Tag an; wie sollte ich auch…

Ich kam als Kind aus einem vertrauten Dorf in der Mark Brandenburg in die Stadt. Von dieser Stadt Düsseldorf hatte ich gehört, weil der Bruder meines Vaters, mein Onkel Georg, dort schon jahrelang seit seinem Gartenbau-Studium wohnte. Er leitete das Düsseldorfer Gartenamt.

Ja, dieser spezielle 1. Mai 1953, das war nun der Tag, an dem wir, meine Mutter und ich, nach einer aufregenden Flucht nach verschiedenen Lager- und Durchgangslager-Aufenthalten, einem kritischen Krankenhaus-Aufenthalt in Düsseldorf-Derendorf mit leichtem Gepäck aus dem Rheinbahn-Bus stiegen. Mein Vater hatte schon ein knappes Jahr vorher aus politischen Gründen fliehen müssen, weil er sich der Eingliederung in die Kolchose (später LPG) widersetzte.

Ich sah mich um, sofort fiel mir die asphaltierte Straße auf, die Mietshäuser gegenüber, die Gebäude, die sich später als Polizei-Kaserne entpuppten. Ein Kiosk und ein Zeitungsbüdchen standen an den Straßenecken einander gegenüber. Neben dem Zeitungsbüdchen war ein Torbogen zu sehen, der mich an die Spielplätze in Berlin erinnerte.

Wie auch immer… die Skepsis blieb. Als Kind versteht man längst nicht alles.

Über die Notwendigkeit unserer Flucht war ich im Bilde. Natürlich wollte ich meinen Vater nicht eingesperrt sehen; eine verworrene Zeit war das für mich. Das Dorf, die Tiere, die Spielgelegenheiten, die Freunde und Spielkameraden vermisste ich sowieso während der Fluchtmonate schon.

Nun aber machten wir uns auf zur Johannstr. 50 a; das Haus kannten wir durch ein Foto das der Onkel uns gesandt hatte.

Die Begrüßung war überschwänglich, die Erwachsenen weinten vor Freude.

Die Wohnsituation war prekär. Man kann es sich aus heutiger Sicht kaum vorstellen, wenn man die Zeit nicht selbst erlebt hat. Wohnungen wurden in der Nachkriegszeit verwaltet. Und so geschah es, dass mein Onkel zwar eine Drei-Zimmer-Wohnung hatte, aber ein Zimmer durch eine Untermieterin besetzt war.

Meine Eltern und ich wurden in der Mansarde untergebracht, die zur Wohnung gehörte. Die Enge kann man sich nicht vorstellen. Mit diesen Verhältnissen war ich aber bald ausgesöhnt.

Die Einschulung in die Volksschule Essener Straße und die spätere Umschulung zur Matthias-Claudius-Schule brachten Schul- und Spielkameraden mit sich. Das Flüchtlingskind wurde auch in der Nachbarschaft rasch unter die Fittiche genommen; es war eben noch die Zeit der ritterlichen Spielkameraden. Heute würde man von.rascher Integration sprechen.

Die Eltern hatten es mit der „Integration“ nicht so leicht; die Zeiten waren hart und die Jobs waren rar. Ich übertreibe nicht, wenn ich hier schreibe, dass die Arbeitssituation mehr als unerfreulich war. Die Landwirtschafts-Diplome der Eltern galten den Arbeitgebern der damaligen Zeit nichts.

Vater fand Arbeit als Treckerfahrer im Gartenamt. Mutter jobte nach einigen Anläufen in grotesken Arbeitsstellen in einem Gartenbau-Betrieb am Südfriedhof. Sie sparte das Fahrgeld für die Bahn und fuhr mit einem klapprigen Fahrrad durch die Stadt zur Arbeit.

Positive Entwicklungen ergaben sich fast zeitgleich: Die Untermieterin entschwand durch einen allseits zufrieden stellenden Verwaltungsakt, Onkel und Tante bezogen Mitte der 1950er Jahre ein Haus in Gerresheim und wir bezogen die frei gewordene Wohnung!

Die Mansarde wurde mein erstes eigenes Zimmer, welch ein „Luxus“ in der damaligen Zeit!

Ich wurde zum Schlüsselkind, beide Eltern gingen arbeiten. Kinder wurden damals oft zum „Selbstversorger“.

Pro Tag gab es von den Eltern zweimal 15 Pfennig für die Straßenbahn. Das war viel Geld, Brötchen kosteten damals ca. 7 Pfennig. Es war noch die Zeit der Emaille-Schildchen am Büdchen: Laufmaschinen-Reparatur 8,33 Pfennig!

Die Schaffner lehnten es oft ab, den Kindern dieses Fahrgeld für die zwei bis drei Stationen abzunehmen. Mancher Schaffner sagte „Du steigst doch gleich aus…“, andere „übersahen“ die Kinder geflissentlich.

Die 15 bis 30 Pfennig wurden nach der Schule für Eis oder für eine warme Metzger-Mahlzeit ausgegeben. Wenn ich 80 Pfennig ersparte, konnte ich für diesen Betrag im Roxy-Kino die tollen Western der 1950er Jahre anschauen! Das war himmlisch! Oder ich konnte in den städtischen oder privaten (so was gab es damals) Leihbüchereien Bücher ausleihen, mit nach Hause nehmen und nach den Schularbeiten in der Mansarde lesen.

Autor:

Bernd Schiele aus Düsseldorf

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