Den Fußball entdecken

»Unter uns kann ich es ja sagen...«, meinte neulich ein alter Kollege zu mir und hielt für einen Moment inne. Ralle lebt seit drei Jahren in Hamburg und ist vor 14 Monaten Vater geworden. Er fummelte mit spitzen Fingern in seinem Portemonnaie herum und zog eine Dauerkarte für den FC St. Pauli aus dem abgegriffenen Leder hervor. »Irgendwie schon scheiße, oder?«, murmelte er und zeigte auf die Zahlenreihe am Rand des Plastiks. Gerade einmal die Hälfte aller Spiele war abgeknipst.

Ralles schlimmste Befürchtungen waren offensichtlich Realität geworden. Eine Stunde nach der Geburt seiner Tochter hatte ihn seine Frau damals mit ernstem Blick gefragt, ob er denn nun immer noch so fanatisch auf Fußball sei? Ralle wusste nicht, wie ihm geschah, was er sagen, geschweige denn denken sollte und hielt es für angebracht, nichts zu antworten. Vielleicht war das ein Fehler. So stand er am ersten Spieltag der neuen Saison nicht in der Kurve, Seit’ an Seit’ mit seinen Stehplatznachbarn, sondern ging gemeinsam mit seiner Kleinfamilie in einen Kochkurs für probiotische Babynahrung.

Doch Ralle ist schon immer ein Kämpfer gewesen. Im Moment arbeitet er mit Hochdruck an der Fußballbegeisterung seiner Tochter. »Und wenn ich mit der Laura erst durch das tiefe Tal des Frauenfußballs gehen muss«, versprach er uns neulich mit erhobenem Zeigefinger, »eines Tages wird sie bereits am frühen Morgen des Spieltags an Papas Hosenbein ziehen und es nicht abwarten können, bis wir gemeinsam jedes nur denkbare Schimpfwort dem Mann in Schwarz am Millerntor um die Ohren gehauen haben!« Wahrhaft ein ehrenwertes Ziel.

Gott sei Dank kenne ich solche Probleme nur vom Hörensagen. Fußball ist unser Leben. Und so erstrahlte neulich mein Gesicht augenblicklich vor Begeisterung, als mein Sohn wieder einmal - wie aus dem Nichts - »Ball« sagte. Immer wieder und immer lauter rief der kleine Wurm das wunderschöne Wort in den stillen Raum hinein. Ich setzte mich zu ihm, legte meinen Arm um seine zarte Schulter und stimmte in das freudige Gebrüll mit ein. Erst als meine Frau kritisch anmerkte, sie fände es zwar total schön, dass wir beide wertvolle Vater-Sohn-Zeit miteinander verbringen würden, aber ob dies wirklich morgens um vier Uhr im gemeinsamen Schlafzimmer sein müsse? Da hatte sie natürlich nicht unrecht. Und so legten wir uns alle noch einmal in unsere Betten. Kurz vorm Einschlafen dachte ich lächelnd an den alten VfL-Recken Thomas »Übersteiger« Stickroth. Der hatte mir einmal erzählt, dass sein erstes Wort tatsächlich nicht Mama, Papa oder Wurststulle sondern »Ball« gewesen sei - und was hatte der Mann für eine fabelhafte Karriere hingelegt.

Nein, ich kann mich wahrhaft nicht beklagen. Alle wichtigen Gegenstände des täglichen Bedarfs tragen in unserem Haushalt die blau-weißen Farben unseres Traditionsvereins und auch die angeheiratete Schalker Sippe hält nach ersten kümmerlichen Abwerbungsversuchen mittlerweile die Füße still. Denn nicht nur die heimlich geschossenen Fotos, die unseren schlafenden Stammhalter mit dem königsblauen Maskottchen Erwin im Arm zeigten, wurden in einer aufwändigen Formatierungsaktion sämtlicher Festplatten der Schalker Verwandtschaft gelöscht, sondern auch die Bilder der Jubelfeier des glorreichen Europapokalsiegs von 1997. Ein schmerzhafter wie lehrreicher Verlust.

Seitdem freuen wir uns lieber gemeinsam über die ersten Flugkopfbälle auf roter Asche unseres kleinen Fußballfanatikers. Und wenn er noch ein bisschen älter ist, dann wird er ganz bestimmt Ralles Tochter einmal zeigen wollen, was ein echter Übersteiger ist. Die Thomas-Stickroth-Gedächtnis-Videos hat der Patenonkel bereits feinsäuberlich auf sechs DVDs zusammen geschnitten. Und wer den charismatischen Ex-VfLer kennt, der weiß, bei ihm gucken auch Frauen gerne ein zweites Mal hin...

Autor:

Ben Redelings aus Bochum

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

5 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.