Derendorf … ein Stadtteil von Düsseldorf und ein Stück Teenager-Zeit

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Derendorf … ein Stadtteil von Düsseldorf und ein Stück Teenager-Zeit

Wenn Du willst, nehme ich Dich mit zu einem Spaziergang durch meine Kindheit und Halbstarkenzeit in Derendorf, und wir gehen ein Stück ins Jetzt...
Ja, die Helden und die Orte der Kindheit... Das wird eine vielschichtige Galerie! Was hätte ich dir alles zu sagen bei dem Versuch dir das zu erklären...
Irgendwann vor einiger Zeit waren sie auf einmal da, die Gedanken an die Kindheit in Derendorf. Bilder mit lieben Erinnerungen tauchten auf...
und ich dachte mir, wie erkläre ich dir das und warum erkläre ich dir das …
Lang vorher und lange danach stellte ich mir vor, die Stadt zu entkleiden, wie man eine Geliebte entkleidet: jedes Mal auf andere Art... In ihren Poren lagert das Begehren eines ganzen Lebens, ist in schmale Durchgänge und Cafés geschlüpft; wie Gebete, die sich in den Mauerritzen eines Kultbaues verkrochen haben.
Ich stellte mir vor, wie ich dir geheime Orte anbiete, entdeckt in Jahren einsamen, ziellosen Schlenderns; die zwei Fingerbreit Masswerk, die nur das Winterlicht enthüllt, das leer stehende Amtsgebäude, das über dem Kliff zerbröckelt.
Die riesige Marmorhöhle einer nächtlich erleuchteten Empfangshalle wirft matten Widerschein von Aberhunderten kristalliner Kalksteinplatten auf die Strasse.

Die massiven, zwei Stockwerk hohen Holztüren: ihre eisernen Angeln sind so gross wie ein Kind.

Die diskret zwischen die Wohnhäuser geschmuggelten Generatorhäuschen mit ihren penibel gepflegten Rasenflächen und adretten Jalousieläden, hinter denen Megawattstärken reiner Energie für das Großmarktgelände pulsieren. Das Fabrikgebäude, zu solid gebaut, um kostengünstig abgerissen zu werden, das einsam mitten auf einem Parkplatz steht und wie ein zehn Stockwerk hohes Götzenbild übers Meer schaut.

Die Bücher aus Stein. Die heimlichen Orte, wo man in der Abenddämmerung den Güterzügen am Derendorfer Bahnhof nachsehen oder den aufsteigenden Mond beobachten kann. Die perfekte Handbreit Stadt - ein zwischen zwei Warenhäuser geklemmter Durchblick. Die Zärtlichkeit sorgsam gestutzter Ligusterhecken, hinter denen sich die Ruinen der verlassenen Fensterfabrik Fenestra verbergen.

All die Geheimnisse von Derendorf...

Manchmal, kurz vor dem Schlaf, fallen mir stille Orte ein, die verschwunden sind, bevor wir uns in späteren Jahren begegneten - Orte, wo ich wahrhaftig gelebt und gebebt habe, von denen nichts blieb, keine Ruine, kein Überrest, nur Erinnerung.

Das sind die Orte der fast noch kindlichen Grenzüberschreitungen: über die Zäune der Nachbarn klettern, die Erziehung des „scharfen Bernhardiner-Hundes“ zunichte machen, sich leise wie ein Dieb in dunkle, sommerliche Hinterhöfe fallen lassen mit der ersten Liebsten um die Tastspiele zu geniessen.

Mag sein, dass wir zur selben Stunde in dieselbe Nacht geschlüpft sind. Die Zeit ist ja immer dieselbe …

Jeder Ort, modern oder vor Generationen erbaut, sei er bevölkert oder bereits verlassen, ist von Eros durchdrungen.

In unserer gebauten Welt begegnen sich geologisches und menschliches Gedächtnis, wie Schicksal und freier Wille.

Jedes Gebäude ist eine Schnittstelle, wo eigene Erfahrung auf fremde trifft, wo die Vergangenheit in der Gegenwart lebt. Die sich verwebenden Gesangslinien in der Derendorfer Synagoge; der verschwundene Lebensmittel-Laden mit der immer aus Liebeskummer verheulten Verkäuferin, die zur Mietwohnung umgebaute Gastwirtschaft, in die man als Jugendlicher nicht durfte, die katholische Kirche in der Hugo-Viehoff-Straße Ecke Ulmenstraße, durch deren unterirdische Lüftungsschächte man zum Entsetzen des damals irischen Pastors und der anderen Erwachsenen gekrabbelt ist …

Die Stadt ist ein stetes Aufschimmern von im Gegenwärtigen verborgenen Orten, die wir nie sehen werden; und von verschwundenen Orten (oder Möglichkeiten), deren geisterhafte Abwesenheit im von neuen Gebäuden besetzten Raum oder in der Leere über einem Parkplatz fortlebt.

Dieser Eros fliesst in den Strassen Düsseldorfs, dieser Stadt, die errichtet wurde, wo einst nichts Besonderes war; der Eros eines Orts, der nie besessen, aber durch und durch bewohnt und belebt werden kann.

Jedes Jahr hat Düsseldorf Events, Hunderttausende kommen zum Fest der Schadowstraße, zum Altstadtherbst, zum Bücherbummel auf der Kö; tagelang haben wir Gelegenheit, einmal genau zu sehen, wer wir sind; alles zu sehen, was uns Düsseldorf außer den Fassaden über seinen Nutzen und seine Verwendung zu erzählen hat.

Und wenn alles wieder ruhig geworden ist, wispert der Hofgarten und der Nordpark und die Altstadt uns etwas über diejenigen, die es entwarfen und bauten, über das nahebei oder in der Ferne gewonnene Material, aus dem es geschaffen ist, und über das Gedächtnis des Ortes, an dem es errichtet wurde.

Wie ein Mensch reflektiert die Stadt ihre Zeit, ihren Kontext.

Wie schön ist etwa die Nachbarschaft der alten und neuen Stadtteile von Düsseldorf; wie könnte der Geist zweier unterschiedlicher, doch voneinander unlösbarer Epochen klarer hervortreten als hier, wo im Stadtteil Derendorf jede sich durch die Gegenwart (Einkaufzone Nordstraße) und Nähe der anderen (Kreuzkirche... Klever Platz) steigert und zu sich kommt.

Ich sehne mich nach dem bergischen Düsseldorf, das ich nie kannte, und nach dem lebendigen Düsseldorf meiner Halbstarken-Zeit, das ich in den 1950er-1960er Jahren kannte.

Ich vermisse bei der Autofahrt die Kastanienbäume der alten Johannstraße. Ich grolle *gg* dem Straßenverkehr, der die Theodor-Heuss-Brücke nötig machte und die idyllischen Indianerspiel-Paradiese und die verschwiegenen Schmuse-Ecken *ggg* am Nordfriedhof verschlang.

Wo sind das Roxy-Kino, der Münster-Palast und das Nordlicht-Kino mit der intimen Loge wohl jetzt? *gg*

Vielleicht sind solche Verluste unbedeutend.
Aber die Lehre, die ein Gebäude erteilen, die Leere, die es hinterlassen kann, sind es nicht.

Welche Fabrik glaubt daran,
dass sie einmal in Schlafzimmer aufgeteilt wird,
welche Bank, dass man in ihr eines Tages Pizza oder Kuchen bäckt?

Welches Lagerhaus hofft, dass jemand sich die Mühe nehmen wird, seine Ruinen mit der Zärtlichkeit eines Gartenparks zu umgeben?

In jedem Gebäude ruhen solche Möglichkeiten.

Vielleicht rührt daher unser Kummer, wenn wir ein Haus oder eine Kirche verlassen, unbeachtet oder dem Zerfall anheim gegeben sehen; fast wie wenn ein Mensch verraten worden wäre.
Ein Haus scheint noch zu glauben, wenn längst keine Hoffnung mehr ist.

Stell Dich an einem regnerischen Morgen vor das Ratinger Tor, blicke die Heinrich-Heine-Allee herunter auf das Wilhelm-Marx-Haus, atme das Genie der Architekten und Stadtplaner.
Besonders nach einem Regenguß wird Dir der Duft des Hofgartens vom Schöpfergeist erzählen. Trinke einen Schluck im wahrhaft höchsten Restaurant auf dem Rheinturm und schau von oben auf den Ort, der früher ein Marktflecken war...

Dann, an jenem einen Wochenende im Mai, wenn Düsseldorf seine Türen öffnet, gehe zu diesen Orten zurück, und wirf einen Blick hinein...

Es ist wie das Leben:
Die wichtigsten Türen öffnen sich nur selten.

Wenn eine Stadt oder das Leben Dir Türen auftut, zögere nicht auf der Schwelle.

Geh hinein!

Autor:

Bernd Schiele aus Düsseldorf

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