Eine tapfere Frau

Herr A., ein älterer Herr, hätte aus statistischer Sicht einen anderen Tod verdient. Aber als er plötzlich und unerwartet durch einen Verkehrunfall starb, bot ich seiner Witwe, Frau A., an, sie wöchentlich zu besuchen:
„Wenn Sie reden wollen oder so…,“ sagte ich unbestimmt, um sie nicht zu bedrängen und doch eine Art Trost zu hinterlassen.
Aber gleichzeitig dachte ich:
Es gibt Frauen, die fangen erst dann an zu leben, wenn sie Witwe sind. Und es gibt Frauen, die haben ein Leben lang Zeit sich auf diesen Zustand vorzubereiten.
Aber es gibt auch Witwen, die fallen in sich zusammen, wenn ihnen der männliche Halt fehlt. Oder vielleicht haben sie auch nur die Rolle des Opfers zu perfekt einstudiert.
Bei Frau A. allerdings war ich mir unsicher zu welcher Kategorie Frau sie gehörte. Denn immer wenn sie in meine Sprechstunde kam, lächelte sie sanft wie eine tapfere Frau.
Und wenn ich sie dann untersuchte, war ich immer wieder erstaunt, dass ich in ihrem Haaransatz hinter den Ohren keine Operationsnarben entdecken konnte. Denn ihr Lächeln war wie angenäht. Und als Hausarzt hätte ich vermutlich gewusst, ob sie vielleicht über Nacht von einem Lottogewinn heimgesucht worden war.
Aber selbst wenn Frau A. eine leidenschaftliche Kartenspielerin war, die immer dann aufjuchzte, wenn „ihre“ Karten aufgingen – solange, dachte ich immer, kann eine derartige Freude auch nicht anhalten.
Und so stellte ich mir vor, dass Frau A. ihren Alltag vielleicht immer noch so lebte, als säße ihr Heinz im Nebenzimmer. Vielleicht, dachte ich, wurde sie durch das Foto ihres Mannes, das im Vertiko stand, dazu verführt zu glauben, dass ihr Heinz noch nicht gestorben sei.
Deswegen verrückte sie in seinem Zimmer nicht einmal einen Stuhl.
Im Gegenteil, sie machte ihm jeden Abend das Bett und plazierte die Wärmflasche an sein Fußende. Und natürlich legte sie ihm für den nächsten Tag die Kleider über den Stuhl, den sie nicht mehr verrückte.
Übrigens, die letzten Wochen sah ich Frau A. nicht mehr. Und sie rief auch nicht mehr an.
Eigentlich hatte ich Frau A. schon vergessen, als ich sie plötzlich im „Bistro“ sitzen sah. Sie musste mich nicht sehen.
Aber ich freute mich doch, dass sie händchenhaltend neben ihrem verwitweten Schwager saß und ihn anstrahlte wie eine Heizsonne.
Das nenne ich Familiensinn, dachte ich noch und setzte mich an die Theke.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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