Ein Bild - Eine Geschichte
Süßes mit dem gewissen Etwas

Es dämmerte allmählich, als Carla die Auslage ihres kleinen Geschäfts bestückte. Bei ihr gab es Pralinen und Karamell, schokolierte und karamellisierte Früchte und Nüsse, Kekse und Macarons, dazu Bonbons in verschiedenen Farben und Geschmacksrichtungen. Alles selbst gemacht. Sie stand jeden Tag mitten in der Nacht auf, um für frische Ware zu sorgen. Gerade im Winter fiel ihr das sehr schwer, aber die Arbeit lohnte sich. Sie lernte täglich neue Leute kennen, hatte nette Gespräche mit den Kunden. Die vielen Geschichten, die sie hörte, waren ihr die Mühe wert.
Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass es bei Carla nicht nur normale Süßigkeiten gab, sondern auch Dinge mit einem Hauch Magie. Ihre Lila-Laune-Kekse und die Pralinen namens süße Gelassenheit (mit Himbeerfüllung) waren sehr beliebt. Die Menschen hatten heutzutage einen großen Bedarf an Entspannung. Die Mutmacher-Karamells waren bei Schülern sehr gefragt, es gab immer eine Klausur oder ein Test, der bestanden werden musste. Die Gute-Nacht-Dragees gingen aber genauso gut weg, wie die Fitness-Nüsse und die Aufwach-Beeren.
Sie betrachtete zufrieden ihre Auslage und schaute auf die Uhr. Noch 15 Minuten, bis die Einkaufspassage, in der sie ihr Geschäft hatte, öffnete. Nun noch schnell die Schubladen hinter der Theke auffüllen. Hier bewahrte sie Süßigkeiten für besondere Anlässe auf. Süßigkeiten, die sie nur an Erwachsene ausgab und auch nur an die, die ihren Redlichkeitstest bestanden. Sie hatte nicht nur eine besondere Gabe, was die Herstellung der Süßigkeiten anging, sie hatte auch ein besonderes Gespür für Menschen. Es war nicht nur Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe, sie konnte in sie hineinfühlen.

Der Tag begann ruhig. Eine Stammkundin kaufte ihren wöchentlichen Vorrat an Gute-Nacht-Dragees und dazu noch einige Nougatpralinen.
„Möchten Sie vielleicht noch etwas anderes probieren?“ Carla fragte sie das jedes Mal, doch letztendlich blieb die Frau bei dem, was sie immer kaufte.
„Mh, vielleicht einige Macarons und Kekse. Ich bekomme heute Besuch, wissen Sie. Eine alte Schulfreundin. Wir treffen und seit 50 Jahren.“ Die Kunden blinzelte Carla an.
„Wie schön!“ Carla packte die gewünschten Dinge in eine Tüte. „Ich packe Ihnen noch ein paar schokolierte Nüsse und Cranberrys zum Probieren ein.“
Die Frau nickte erfreut und bezahlte.
Einige Schüler kauften in ihrer Pause Mut-Macher-Karamells.
„Was ist es heute? Mathe oder Deutsch?“ Carla verkniff sich ein Grinsen und bemühte sich um ein ernstes Gesicht.
„Geschichte!“, stöhnten die Kinder.
Carla nickte mitfühlend. „Ja, Geschichte ist schwierig. Aber ihr schafft das.“ Sie packte ihnen einige mehr ein, die doppelte Dosis würde nicht schaden.
Ein junger Mann fragte nach der Wirkung der Fitness-Nüsse. „Wissen Sie, meine Freundin ist so sportvernarrt. Joggen, Radfahren, Schwimmen. Sie hat sich für einen Triathlon angemeldet.“ Er seufzte hilflos und Carla schmunzelte. „Sie triezt mich die ganze Zeit mitzumachen, aber es ist so anstrengend!“ Er sah Carla empört an und sie musste sich mit aller Macht ein lautes Lachen verkneifen.
„Also, die Fitness-Nüsse werden Sie dabei definitiv unterstützen, dass es leichter fällt, nicht so anstrengend ist. Sie ersparen viele Stunden anstrengendes Training.“
Der junge Mann lachte erleichtert. „Dann nehme ich 100 Gramm.“
„Sehr gerne.“
Carla sah Herrn Naumann schon von weitem und grinste breit, als er zu ihr an die Theke kam. „Müssen Sie wieder ihre Schwiegermutter besuchen?“ Der Mann ließ die Schultern sinken und nickte gequält. Carla konnte es ihm nicht verdenken. Einmal war die ganze Familie in ihrem Laden gewesen. Herr Naumanns Schwiegermutter hatte an allem etwas auszusetzen gehabt. Die Pralinen waren zu klein, zu süß (dabei hatte sie fast alle Kostproben aufgefuttert), die Kekse zu trocken und zu krümelig und so weiter. Herr Naumann hatte sie gewaltsam aus dem Laden geschoben und war zurückgekommen, um sich bei Carla zu entschuldigen. Sie hatte ihm einige Schweige-Macarons geschenkt. Seitdem war er Stammkunde.
„Ich bin einmal dort gewesen und einmal war sie bei uns. Ich brauch eine Pause.“ Er seufzte theatralisch. „Jeden Monat!“
Carla nickte ernst und lächelte ihm dann aufmunternd zu. „Sie sind sehr tapfer! Was möchten Sie?“
Er überlegte. „Fieber und Husten wäre gut. Das hatte ich schon eine Weile nicht mehr.“
Carla packte ihm einige Fieberdrops und Hustenpastillen ein, die sie aus den Schubladen hinter der Theke nahm. „Die Dosierung wissen sie noch?“
Er nickte und bedankte sich fröhlich. „Was tut man nicht alles, um seine Ruhe zu haben.“

Kurz vor Ladenschluss kam noch ein Mann zu ihr. Er wirkte gehetzt und gestresst.
„Die Lila-Laune-Kekse sind im Angebot.“ Carla wies auf den stark geschrumpften Stapel an Vanillekeksen mit lila Streuseln.
Der Mann sah sich nervös um und sagte dann so leise, dass Carla ihn kaum verstand: „Ich brauche etwas anderes. Ich habe da so einen Kollegen ...“ Wieder sah er sich um. Carla war nun ganz Ohr. Dies war einer dieser besonderen Fälle, wo sie ganz aufmerksam die Beweggründe prüfen musste. „Er ist neu in der Abteilung. Wir sind ein gutes Team gewesen, bevor er kam. Er aber ...“ Er schnaufte und Carla sah und fühlte, dass er seine ganze Kraft brauchte, um seine Emotionen halbwegs unter Kontrolle zu halten. „Janina baggert er ständig auf so widerliche Art und Weise an, dass sie sich kaum noch ins Büro traut. Tanja und Fabian macht er ständig wegen ihrer Figur runter, dabei ist er selbst nicht wirklich schlank. Mich hat er schon mehrmals als unfähig hingestellt und hat dann meine Arbeit als seine ausgegeben und auch noch Lob dafür einkassiert. Mit Klaus und Henrik hat er das gleiche gemacht. Ich sei alt, fast senil. Können Sie sich das vorstellen? Ich bin grad mal fünfzig.“ Carla nickte. Das konnte sie in der Tat. Er war nicht der Erste, der unter einem anderen leiden musste. Arschlöcher gab es überall. „Er hat sich für die Abteilungsleitung beworben. In drei Monaten geht Torben in Rente. Er soll die Planung für den kommenden Auftrag präsentieren. Der Kunde, aber auch die Geschäftsleitung wird dabei sein. Möglicherweise auch jemand von der Personalabteilung, um zu sehen, wie er sich schlägt.“ Der Mann war jetzt den Tränen nah. Carla sah, dass die Verzweiflung echt war. „Er kann sich gut präsentieren.“ Der Mann schluchzte und wischte sich hastig über die Augen. „Wir werden das nicht verkraften. Janina, Tanja, Fabian und Henrik finden sicherlich etwas anderes, aber Klaus und ich?“ Seine Schultern sackten nach unten. „Bitte helfen Sie uns.“
Carla nickte langsam. Dies war ein Notfall. „Isst er denn Süßigkeiten?“
Der Mann nickte. „Man kann kaum etwas offen stehen haben, ohne das er sich bedient. Er geht auch an geschlossene Dosen und Verpackungen.“
„Unerhört, aber in diesem Fall, hilfreich.“ Carla überlegte. „Es wäre nicht gut, wenn wir ihn komplett außer Gefecht setzen. Er muss sich blamieren, damit er keine Chance auf den Leitungsposten hat.“ Der Mann nickte. Sein Gesicht hellte sich langsam auf. „Ich packe Ihnen einige Gute-Nacht-Dragees ein. Davon sollte er nur eins nehmen, sonst wird er zu müde. Sie wirken acht Stunden. In der geringen Dosis entspannen sie eher, sorgen aber auch dafür, dass man sich nicht besonders gut konzentrieren kann. Sie sollen ja eigentlich beim Einschlafen helfen und die Gedanken zur Ruhe bringen.“ Der Mann nickte langsam. „Dazu gebe ich Ihnen Kotzdrops und einige flotter Heinrich-Pralinen mit. Auch davon je nur eine, nach Möglichkeit kurz vor der Präsentation, denn die Wirkung verfliegt nach etwa einer Stunde. Damit sollte er sich lediglich unwohl fühlen, aber sich aber nicht übergeben müssen oder Durchfall bekommen.“ Hoffnung brachte die Augen des Mannes zum Leuchten. „Und zum Schluss noch einige Schweige-Macarons. Zwei wären gut. Die machen ihn wortkarg. Isst er mehr, bekommt er kein Wort heraus.“ Carla überreichte ihm die Tüte und während er bezahlte, bedankte er sich überschwänglich.

Am nächsten Tag kam der Mann am frühen Nachmittag zu Carla und strahlte über das ganze Gesicht.
„Ich nehme an, der Plan ist aufgegangen?“
Der Mann nickte und lachte. „Sven hat sich bedient, hat von den Macarons einen zu viel gegessen und hat sich einen zurechtgestammelt. Bei seiner Gesichtsfarbe vermute ich, dass er auch von den Kotzdrops einen zu viel erwischt hatte. Wir konnten sie kaum wegpacken, so schnell hat er zugegriffen. Der Kunde ist schon unruhig geworden und auch die Geschäftsführung hat nicht begeistert ausgesehen. Henrik hat dann übernommen und das Ganze souverän gemeistert.“ Der Mann schnaufte fröhlich und lachte. „Der Personaler hat Henrik gefragt, ob er den Abteilungsleiterposten übernehmen würde. Sven hat vorhin gemeint, dass er sich vielleicht nach einem anderen Job umsehen will. Wir wären ja ein so langweiliger und spießiger Haufen. Janina hat die flotter-Heinrich-Pralinen so offensichtlich hingelegt, dass er sie alle auf einmal gegessen hat. Er ist jetzt beim Arzt und für uns gibt es Kekse und Pralinen.“

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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