Top Secret

Top Secret

Letztens war ich im ICE unterwegs Richtung Frankfurt. Der Zug war knackevoll, kaum irgendwo ein freier Platz. Die, die ihren Nebensitz mit Taschen und Kram voll gestellt hatten, wurden so intensiv böse angestarrt, bis sie murmelnd den eigentlich freien, aber doch komplett besetzten Sitz räumten. Ob jetzt Entschuldigungen oder Verwünschungen murmelnd, konnte nicht genau festgestellt werden.

Da ich nur mit einer kleinen Reisetasche unterwegs war, konnte ich mir den Luxus erlauben, mich ganz relaxt von Waggon zu Waggon zu schieben und mir einen wirklich freien Platz zu suchen. Den fand ich an einem Vierersitz mit Tischchen dazwischen. Rechts von mir schlängelte sich der alte Vater Rhein träge vorbei. Zwei Stunden. Für zwei entspannende Stunden lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und genoss die fahle Wintersonne, die mir schräg ins Gesicht schien.

Zwei Sekunden Ruhe, dann – eine alte Heavy-Metal-Gitarre schrillte sich in meine Entspannung. Ein auf höchste Lautstärke eingestelltes Handy. Mensch, geh doch endlich ran! Mach schon! Ich hasse Heavy Metal, seit meine Töchter anfingen, es zu lieben.
„Ja, hi, - wat sachste? – Mensch, äj, Alter, komm runter, dat war doch gar nich so…“

Ich versuchte, meine Ohren vor dem deutschen Nachwuchs-Goethe samt Handy zu verschließen. Aber bevor ich um- und abgeschaltet hatte, schrie eine Frau zwei Reihen hinter mir plötzlich los. „Nein!“
War sie krank, brauchte sie Hilfe oder wurde sie gerade überfallen und gewürgt?
Ich klappte die Ohren weit auf nach hinten, lauschte - und war beruhigt. Die Frau war offensichtlich prallgesund. Im breitesten Sächsisch fing sie an, mit Mister anderes Ende über die letzte Nacht zu sülzen. Sämtliche intime Einzelheiten flogen uns um die Ohren. Wer will sowas wissen?
Bin ich Oswald Kolle im Fortgeschrittenen Seminiar? Muss ich jetzt auf meine alten Tage noch lernen, wie Stellung 48 oder 53 geht? Ich hab Hüfte!!!!
Aber leider konnte man ihr akustisch nicht entfliehen.
Noch während sie weiter in voller Lautstärke verzückt von Stellung 23 schwärmte, bummerte schräg links vor mir ein weiteres Handy los. Der Ton war neutral laut, irgendwie geschäftsmäßig.

„Ja, hallo, Herr Meier. Ich bin noch unterwegs. Ja, im Zug. Haben gerade Köln passiert. - Ja, ich denke, ähm, bin sicher, ich bin rechtzeitig zum Meeting bei Ihnen… hallo? – hallo?...“

Muss der so schreien?

„Hallo? – Ah, da sind Sie ja wieder. – Selbstverständlich, ich habe die kompletten Unterlagen dabei. – Alles, was die Firma ABC betrifft, ist hier auf meinem Laptop und in meiner Präsentationsmappe…hallo? Hallo? – Sind Sie noch da, Herr Meier? – Hallooooo!!!!!!!!!“

„Schätzelein, glaubs mir, ich werd’ es natürlich keiner Menschenseele erzählen. Stell dir vor, deine Frau erfährt da was von… (kicher, kicher!) Nee, wirklich, Herbert, das bleibt ganz unter uns. Top secret. Klaro doch! Meine Lippen sind verschlossen! – Außer für dich!“ …

„Chef? – Sorry, hatte gerade ein Funkloch. Was sagten Sie? – Selbstverständlich, selbstverständlich bleibt das unter uns. Ich weiß doch, was daran hängt. Das ist selbstverständlich Top Secret! Kein Sterbenswort an irgendwen… - ähm, was sagten Sie eben? Hier ist es so laut, ständig diese Handys! – Ok, versprochen, bis heute Nachmittag bei der Konferenz also! Und- wie gesagt: natürlich alles absolut vertraulich.“

Ich kramte meinen Schal aus der Tasche, wickelte ihn wie ein Zahnschmerzpatient vom Kinn über die Ohren bis zum Gedächtnis unter der Hirnschale und blendete meine Umgebung aus.

Beinahe hätte ich mein Handy überhört....

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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