Steigende Preise und Energiekosten:
Ohne Nebenjobs und Erspartes kommen 30% bis 50% der Deutschen nicht mehr über die Runden

Grafik: Heimarbeit.de

Anfang November wurde eine Umfrage veröffentlicht, wonach in Deutschland jeder Dritte (bei den Älteren sogar jeder Zweite) wegen der extrem steigenden Preise ohne einen Nebenjob nicht mehr über die Runden kommt. Jeder Zweite muss zudem seine Ersparnisse zur Deckung der Alltagskosten aufbrauchen, sofern überhaupt Ersparnisse vorhanden sind. „Die Armuts-Pandemie erreicht die Mittelschicht“ titelte eine große Tageszeitung, nachdem die Inflationsrate von 8% auf über 10% angestiegen ist und wohl für längere Zeit noch weiter steigt. Für gleiches Geld kann man immer weniger kaufen; das Geld und eventuelle Sparrücklagen verlieren dramatisch an Wert. Das ist die höchste Inflationsrate seit 1951.

Bisher war vor allem die „Randgruppe“ der 13 Millionen armen Menschen in Deutschland (16%) besonders betroffen, nun auch immer stärker die Mittelschicht. Sogar die Wirtschaftsweisen halten deshalb aktuell eine höhere Besteuerung der Reichen für unverzichtbar, denn die Armutsforscher sehen eine dramatische Entwicklung durch die steigenden Preise, während die Reichen von den staatlichen „Entlastungspaketen“ und Steuervorteilen sogar noch profitieren. Diejenigen dagegen, die am wenigsten haben, müssen von ihrem geringen Einkommen am meisten für Lebensmittel, Wohnen und Energie ausgeben. Die staatlichen „Entlastungspakete“ helfen nur begrenzt.

Zusammen machen Strom, Gas, Miete und Kraftstoffe mehr als ein Drittel des repräsentativen Warenkorbs aus. Die Energiekosten sind um fast 33% gestiegen, die Mobilitätskosten um 13% und die Lebensmittel um fast 10%, wie Ende Oktober von Forbes Advisor errechnet. Für Europa hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Inflationserwartung für die kommenden Jahre nach oben angepasst und kann der Entwicklung trotz Leitzins-Erhöhung kaum entgegenwirken. Die (optimistische) Prognose der Bundesregierung geht auch für 2023 von einer hohen Inflation um 7% im Jahresdurchschnitt aus. Einige Wirtschaftsinstitute prognostizieren eher 8,8% bis 9,5 % für das nächste Jahr. Bis 2026 gehen nur wenige Wirtschaftwissenschaftler von einem Sinken auf etwa 3% aus.

Lohn- und Rentensteigerungen bleiben hinter Inflationsrate zurück

Wer jetzt auf einen Kredit angewiesen ist zur Bewältigung seiner lebensnotwendigen Ausgaben oder wer seinen Immobilienkredit fürs Eigenheim abzahlen muss, für den werden die steigenden Zinsen zum existenziellen Problem. Die von den (kompromissbereiten) Gewerkschaften angestrebten zweistelligen Lohnsteigerungen bleiben zur Vermeidung einer „Lohn-Preis-Spirale“ im Ergebnis wohl hinter der Inflationsrate zurück, so dass Einkommensverluste hinzunehmen sind. (Die IG Bergbau, Chemie und Energie hat sich sogar mit einer Nullrunde zugunsten einmaliger Überbrückungsgelder begnügt.)

Und die von der Regierung bereits angekündigte „spürbare“ Rentenerhöhung für das kommende Jahr in Höhe von 3,5% im Westen bleibt sogar deutlich hinter der Inflationsrate zurück, und das nach einer vorausgegangenen Nullrunde in 2021 und 5,3% in 2022. Gut ein Viertel der Rentner (5 Mio. Ruheständler) hat ohnehin netto weniger als 1000 € im Monat zur Verfügung. Weil die Rente nicht reicht, sind 13% der Rentner nebenher erwerbstätig.

Tafeln und Schuldnerberatungen überlastet

Bei den hoffnungslos überlasteten Schuldnerberatungen gibt es längst lange Wartezeiten von 4 bis 6 Wochen für einen Termin, insbesondere im Ruhrgebiet mit über 46.000 Anträgen. Die Beratungsstellen kommen an ihre Kapazitätsgrenzen. Und auch die Schlangen bei den Tafeln werden täglich länger. Die Zahl der Besucher ist auf über 2 Millionen dramatisch angestiegen, unter anderem auch durch die Flüchtlinge aus der Ukraine. Jeder vierte Tafelbesuche ist Armutsrentner, vor allem Frauen. 500.000 Kinder und Jugendliche sind auf Lebensmittel von der Tafel angewiesen. Jede dritte Tafel musste bereits einen Aufnahmestopp verhängen. Die 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer in den bundesweit 960 Tafeln stoßen an ihre Belastungsgrenzen, da 90% der Tafeln aktuell einen größeren Aufwand haben.

Millionen Menschen können nicht mehr angemessen heizen

Immer mehr Menschen berichten, dass sie die Heizung im Winter nicht mehr anstellen, aus Sorge, die nächste Heizkostenabrechnung nicht mehr bezahlen zu können. 2,6 Millionen Menschen in Deutschland konnten laut eigenen Angaben schon vor den immensen Preissprüngen im Jahr 2021 aus finanziellen Gründen ihr Zuhause nicht angemessen heizen. Das geht aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes hervor. Alleinlebende und Menschen in Alleinerziehenden-Haushalten sind überdurchschnittlich oft betroffen. Nach den Preissteigerungen in 2022 kann sich jeder vierte Haushalt Energie nicht mehr leisten, seitdem jeder vierte Haushalt mehr als 10% seines Einkommens für Energie ausgibt; davon ist auch die Mittelschicht betroffen. Aufgrund der „Energiearmut“ geraten viele in eine finanzielle Schieflage. Besonders schwer hat es, wer arbeitslos ist, gerade in die Rente eintritt oder alleinerziehend ist.

Wird zahlungsunfähigen Haushalten der Strom abgestellt?

Nach vorliegenden Zahlen hatten die Energieversorger im Jahr 2019 insgesamt 4,75 Millionen Haushalten angedroht, den Strom zu sperren, wie die Bundesnetzagentur in ihrem Energie-Monitoringbericht auflistet. Tatsächlich ist wegen unbezahlter Rechnungen  in Deutschland im vergangenen Jahr rund 289.000 Haushalten der Strom abgestellt worden (im jahr 2014 waren es sogar 350.000 Haushalte). Diese zurückliegenden Zahlen werden demnächst wohl übertroffen. Kein Licht, kein warmes Wasser, kein Kühlschrank: Hunderttausende deutsche Haushalte müssen vielleicht in 2023  zeitweise ohne Strom leben - weil sie ihre Rechnungen beim Versorger nicht mehr zahlen konnten. Die Stadtwerke und andere Stromversorger werden sich allenfalls auf Stundungen oder Ratenzahlungen für eine befristeten Zeitraum einlassen.

Strom abschalten für Familien ist grundrechtswidrig 

 Strom abschalten für die Privathaushalte durch öffentliche und Kommunale Versorgungsunternehmen - zu Lasten der mitbetroffenen Kinder (darunter auch Säugling und pflegebedürftige oder sogar erkrankte Senioren in den betroffenen Familien) - ist ein unzulässiger Verstoß gegen die allgemeinen Menschenrechte und das Grundgesetz, denn jede Person hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit - erst recht im kalten Winter (ohne Heizung, Warmwasser und Elektroherd ?) Kinder haben Anspruch auf Schutz und Fürsorge für ihr Wohlergehen (Artikel 24 der EU-Grundrechte-Charta) und dürfen deshalb nicht in Sippenhaftung genommen werden. Der Staat hat die Daseinsvorsorge sicherzustellen und nicht seine verarmten Bürger zu drangsalieren, die ohne eigenes Verschulden ihre Energierechnung nicht mehr bezahlen können.

Über 25% der Haushalte infolge Energiekosten armutsgefährdet

Aus einer neuen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft geht hervor, dass der Anteil der „energiearmutsgefährdeten“ Haushalte im Mai 2022 auf 25,2 Prozent gestiegen ist. Im Vergleich zum Vorjahr konstatieren die Experten einen Anstieg von rund 11 Prozentpunkten. Dass die neuen Entlastungspakete der Bundesregierung nicht weit genug gehen, kritisieren die Wohlfahrtsverbände, die wegen der sozialen Schieflage mehr Kritik als Lob äußerten, da die Ärmsten dabei zu kurz kommen. Die Paritätische Forschungsstelle hat ermittelt, dass die Leistungen des Bürgergeldes von 502 € auf mindestens 725 € angehoben werden müssten, um wirksam vor Armut zu schützen.

Die Appelle führender Politiker (die selber gut versorgt sind bis ins Rentenalter hinein) an die Bundesbürger, sich stattdessen auf spürbare Wohlstandsverluste auch längerfristig einzustellen, allen voran jüngst vom Bundespräsidenten, wird von vielen als geschickte Ablenkung von der ungerechten Reichstumsverteilung im diesem reichen Land betrachtet, wie sie so krass nur in wenigen anderen Ländern vorzufinden ist und achselzuckend hingenommen wird.

Bürgergeld: Spielen Unionspolitiker Betroffene gegeneinander aus?

Umso schäbiger erscheint das Vorgehen der CDU-Opposition im Bundestag, den Anspruch auf das ohnehin zu niedrige Bürgergeld mitsamt Energiekostenerstattung durch weitere Hürden auszubremsen. „Die in Arbeitslosigkeit gefallenen Mittelschichts-Eltern werden argumentativ gegen steuerzahlende Mittelschichts-Paare ausgespielt“, kritisiert ein Kommentar in der taz. Werden arme Menschen nur noch als Kostenfaktor betrachtet? Und was ist mit dem Versprechen für den Aufstieg der Kinder aus Haushalten mit niedrigem Einkommen? Offensichtlich kann und will sich ein Multimillionär an der Partei- und Fraktionsspitze der Union (mit Privatjet und Ferienvilla am Tegernsee sowie als langjähriger Lobbyist eines Finanzkonzerns) in die Alltagssorgen und Nöte der verarmenden Haushalte nicht wirklich hineinversetzen.

Verschlechterte Lebensverhältnisse infolge ungerechter Reichtumsverteilung

Längst ist Deutschland beim Index der weltweit verschlechterten Lebensverhältnisse von Rang neun um fünf Plätze nach unten abgerutscht, wie dpa schon im September 2022 berichtete. Jedes Jahr werden die regierungsamtlichen Statistiken über Armut in Deutschland veröffentlicht und zur Kenntnis genommen (mitsamt der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung zwischen Arm und Reich). Danach geht man zur politischen Tagesordnung über. Jetzt aber betrifft es auch die Mittelschicht, die nun erfährt, wie es ist, wenn die Erfüllung der elementaren Grundbedürfnisse wie Wohnen, Heizen, Lebensmittelversorgung, Mobilität, Gesundheitsversorgung etc. immer unerschwinglicher wird und gefährdet ist.

4.400 Demonstrationen mit über 100.000 Teilnehmern gegen Preissteigerungen

Von den Medien wurde kaum aufgegriffen, dass allein im 3. Quartal 2022 bereits mehr als 4.400 Demonstrationen mit insgesamt über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stattfanden, die gegen die hohen Preise für Gas, Öl und Strom sowie gegen die höchste Inflation im zweistelligen Bereich protestierten. Manche Beobachter hielten dies erst für den Beginn eines "heißen Herbstes"  und eines weiteren Aufbegehrens der betroffenen Menschen.

Messbare Verschlechterung der Lebensverhältnisse zwingt zu Zweitjobs

Nun also machen sich 30 bis 50 % der Betroffenen auf die Suche nach derzeit reichlich angebotenen Zweit- und Drittjobs neben ihrer Haupttätigkeit, um ihre normalen Alltagsbedürfnisse befriedigen zu können und sich nicht verschulden zu müssen. Wie passt das mit dem Versprechen des Kanzlers übereinander: „Wir lassen niemanden allein“? Einige Zeitungsverleger haben schon vor Monaten inseriert: „Verdiene dir was dazu! Du kannst dir die Heiz- und Spritkosten nicht mehr leisten? Werde nebenbei Zeitungszusteller in Voll-, Teilzeit- oder Minijob-Basis, als Berufstätiger, Arbeitsloser oder Rentner“ (neuerdings zum Mindestlohn nach zugesagter staatlicher Subventionierung für die Verleger, vorher zum Hungerlohn). Nach Kritik hier im „Lokalkompass“ haben die Verleger den zynischen Text ihrer Kampagne bezüglich der Nebentätigkeit wegen unbezahlbarer Heiz- und Energiekosten als Aufhänger flugs abgeändert…
>Siehe hierzu den Artikel:
https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/zeitungsverleger-mit-zynischer-kampagne-als-retter-in-der-not_a1780327

Wilhelm Neurohr, 09. November 2022

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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