Ein Bild - Eine Geschichte
Das verzauberte Gemälde

Adrianna entwischte aus dem Nähzimmer, als sich Carlotta, ihre Gouvernante, ihrer eigenen Stickerei zuwandte. Sie ignorierte ihren empörten Ruf und flitzte ganz undamenhaft die Treppe zur Ahnengalerie hoch. Hier war ihr geheimer Zufluchtsort, wenn es wieder mal regnete und sie sich nicht im Garten verstecken konnte. Hier kam niemand her, außer sie hatten Besuch. Der wurde dann einmal durch die Ahnengalerie geführt. Aber ansonsten verirrte sich niemand hierher und keiner suchte sie hier. An trüben Tagen wie heute drang kaum Licht durch das einzige Fenster im Flur und der düstere Gang war mit Kerzen erhellt. Schließlich sollten die edlen Vorfahren nicht im Dunklen vor sich hinvegetieren. Adrianna schaute sich die Bilder gerne an. Immer wieder gab es neue Ähnlichkeiten zu sich selbst und zu ihren Brüdern zu entdecken. Die gebogene Nase, das breite Kinn oder die abstehenden Ohren. Sie hatte auch ihre Ringellocken entdeckt und die langen dünnen Finger. Es war nicht zu leugnen, dass dies ihre Vorfahren waren.
Adrianna blieb vor einem Bild stehen, das sie nicht kannte. Sie hätte schwören können, dass es bei ihrem letzten Besuch noch nicht an der Wand gehangen hatte. Eigentlich hätte an dieser Stelle ein Bild einer ihrer Großtanten hängen sollen. Sie war sich ganz sicher, denn diese hatte die gleichen krausen Haare wie sie. Das Bild zeigte ein jugendliches Mädchen in etwa ihrem Alter auf einer Lichtung im Wald mit einem Korb voller Blumen am Arm.
Sie ging näher heran, um es genauer zu betrachten. Wo war das gemalt worden? Auf allen anderen Bilder waren Räume aus dem Schloss oder der Garten im Hintergrund zu sehen. An den Garten von Schloss Hawick schloss sich auch kein Wald an. Das Anwesen war von Feldern und Wiesen umgeben. Und wer war dieses Mädchen? Dazu sah das Bild aus, als ob es erst kürzlich gemalt worden war. Die Farben waren noch frisch und nicht nachgedunkelt, so wie auf den anderen Bildern. Sie ging dicht an das Bild heran, schnupperte daran, versuchte frische Farbe zu riechen, doch stattdessen nahm sie den Geruch nach Tannen und frischem Grün wahr. Sehr merkwürdig!
Vorsichtig berührte sie das Bild, vielleicht war die Farbe noch feucht. Kaum berührte ihr Finger die Oberfläche, wurde ihr schwindelig, dann schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Gras. Sie setzte sich auf und sah sich um. Sie saß auf einer Lichtung, neben ihr lag umgekippt der Korb, den sie eben noch auf dem Bild gesehen hatte, die Blumen verstreut daneben. Sie rappelte sich hoch. Sie sah und roch die Tannenbäume, die diese kleine Lichtung umgaben, und dann bemerkte sie einen kleinen Rahmen, wie ein Fenster, nur dass es mitten in der Luft schwebte. Sie schaute hindurch und erkannte, dass sie auf die mit Kerzen erhellte Ahnengalerie hinabschaute, wo sie eben noch gestanden hatte. Vor ihr stand das Mädchen aus dem Bild, es trug ihr Kleid und vor Adriannas Augen ringelten sich ihre Haare zu der Krause, die sie jeden Morgen beim Kämmen verfluchte. Ihre Nase krümmte sich ein wenig, das Gesicht wurde etwas länger. Dann lächelte sie Adrianna zu und Adrianna glaubte, in einen Spiegel zu sehen. Was passierte hier?
Adrianna versuchte, durch das Fenster zu greifen, auf die andere Seite zu klettern, doch es ging nicht, ihre Finger trafen auf einen Widerstand, den sie nicht durchdringen konnte. „Lass mich hier raus. Hilf mir bitte!“, rief Adrianna dem Mädchen auf dem Flur zu. Diese schüttelte den Kopf und ihr Lächeln änderte sich in ein boshaftes Grinsen, kurz blitzten ihre Augen rot auf, dann ging sie weg und ließ Adrianna allein zurück.
Adrianna lief auf der Lichtung hin und her und überlegte fieberhaft. Man würde sie wahrscheinlich jetzt schon suchen, Carlotta hatte sich sicherlich schon bei ihrer Mutter wegen ihres Ungehorsams beschwert. Aber man würde sie nicht in der Ahnengalerie suchen. Es würde lange dauern, bis sich jemand dorthin verirrte und dann musste dieser jemand das Bild auch anfassen und würde dann an ihrer statt hier gefangen sein. Sie blieb stehen und ihr Magen verkrampfte sich. Sie wollte nicht, dass dies geschah, genauso wenig wollte sie hierbleiben. Sie sah sich erneut um und kämpfte die Angst nieder, die wie die Kälte in den Fluren im Winter langsam ihre Beine hochkroch. Was sollte sie tun? Sie konnte nicht einfach hier warten, sie würde doch verhungern und verdursten. Und wie hatte das Mädchen überhaupt gewusst, dass sie ausgerechnet heute in die Galerie kommen würde?
Sie schreckte zusammen, als es hinter ihr knackte. Sie drehte sich um und Erleichterung durchflutete sie, als eine Frau auf die Lichtung trat. Sie war nicht allein. Dann kam ihr der Gedanke, dass diese Frau vielleicht mit dem Mädchen im Bild unter einer Decke stecken könnte und ihr etwas antun wollte, und wich zurück.
„Hab keine Angst.“ Die Frau streckte ihr eine Hand entgegen. Sie kam Adrianna bekannt vor, ihre Haare, die Nase und das Kinn hatten etwas Vertrautes. Dann erkannte sie es. Das war ihre Urgroßtante, die sie oft in der Ahnengalerie angeschaut hatte. Felicia, ihre Urgroßtante Felicia. „Du kannst hier nicht bleiben.“
„Aber ...! Adrianna deutete auf den Rahmen und den Flur.
Felicia schüttelte den Kopf. „Der Weg funktioniert nicht für uns, es funktioniert nur bei ihnen.“
„Aber sie suchen schon nach mir. Ganz bestimmt.“ Adrianna wollte nicht aufgeben.
Felicia sah sie traurig an. Jetzt fiel Adrianna auf, dass sie immer noch wie auf dem Bild aussah. Das war aber schon mindestens fünfzig Jahre alt. „Du hast doch selbst gesehen, wie es dein Aussehen angenommen hat. Sie werden dich nicht vermissen, du bist ja schließlich dort. Sie sind sehr gut darin, uns zu imitieren.“
„Wer sind sie?“ Adrianna sah Felicia fragend an, doch diese zuckte nur mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, was sie in unserer Welt wollen. Ich habe, seit ich hier bin, nur versucht zu überleben.“ Sie sah sich um. „Und wenn du das auch willst, dann solltest du jetzt mit mir kommen, sonst holen sie dich. Denn hier sind wir nur Nahrung für sie.“
Wie betäubt stolperte Adrianna Felicia hinterher. Unzählige Gedanken schwirrten in ihrem Kopf umher. Wenn hier diese Wesen Menschen als ihre Mahlzeit betrachteten, dann war doch klar, was sie auf der anderen Seite in ihrer Welt wollten, oder? Neue Weidegründe. Wenn dem so war, dann waren alle, die sie kannte und liebte, in Gefahr.
Felicia führte sie zu einem kleinen Haus, das vor eine Höhle gebaut war. Es gab nur diesen Zugang, der Rest war von Felsen geschützt. Bäume verbargen das Holz der Hütte vor fremden Blicken. Felicia sah sich ein letztes Mal um und schob Adrianna dann durch die Tür. Im dämmrigen Inneren konnte sie einen kleinen Jungen und eine ältere Frau erkennen.
„Das sind Magdalena und Jannes. Edmund ist gerade am Fluss und versucht, ein paar Fische zu fangen.“
Adrianna ließ sich auf einen der grob gezimmerten Schemel nieder. „Wie lange seid ihr schon hier?“
Felica schüttelte den Kopf. „Die Zeit scheint hier anders zu vergehen. Für mich sind nur etwa zehn Tage vergangen.“
Adrianna klappte die Kinnlade runter. „Du bist meine Urgroßtante Felicia. Du bist seit mindestens fünfzig Jahren tot.“
Felicia lachte bitter. „Ich glaube kaum, dass diese Dinger wirklich sterben. Sie suchen sich wahrscheinlich nur ein anderes Opfer.“ Sie setzte sich auf den Schemel neben ihr. „Edmund war zuerst hier, oder hat es als Erster geschafft, sich vor ihnen zu verstecken und zu überleben. Er hat Jannes gefunden. Ich habe Magdalena und heute dich gerettet. Edmund ist seit etwa zwei Monaten hier und er hat noch den letzten Kaiser gekannt.“
„Was machen wir denn jetzt?“ Adrianna konnte sich nicht damit abfinden, einfach hier zu warten und nichts zu tun, einfach in den Tag hinein zu leben. „Es muss doch eine Möglichkeit geben, wieder in unsere Welt zu gelangen. Diese Wesen müssen doch eine Schwachstelle haben.“
Felicia seufzte und ließ dann die Schultern sinken. „Sie brauchen unser Blut und Fleisch zum Überleben. In dieser Welt gibt es außer Fischen und Insekten keine Lebewesen. Als ob sie schon alles leergefressen haben. Wir sind wie Vieh für sie. Ich weiß nicht, wie lange sie schon Menschen durch die Fenster hierher holen. Es ist ein Glück, dass ich dich heute vor ihnen gefunden habe.“
„Geht dann im Austausch auch immer jemand in unsere Welt? Wenn ja, warum sind dann noch welche hier und nicht schon bei uns, wo es so viel zu essen gibt für sie?“
Die Tür ging auf und wurde geschlossen. Ein Mann warf einige Fische auf den groben Tisch.
„Du hast sie gefunden, sehr gut.“ Er setzte sich zu ihnen und sah Adrianna prüfend an. „Sie ist deine Verwandte, oder?“
Felicia nickte. „Sie haben wieder mein Bild benutzt.“
Der Mann pfiff nachdenklich durch eine Zahnlücke. „Ich habe deine letzte Frage gehört. Es muss sehr kräftezehrend sein, jemand zwischen den Welten hin und her zu schicken. Es ist kein Zufall, dass sie Felicas Bild nun erneut benutzt haben. Ich vermute, dass sie versuchen, einen Tunnel zu stabilisieren.“
Adrianna wurde erst kalt dann heiß, als ihr die Bedeutung von Edmunds Worten bewusst wurde. Wenn diese Wesen es schafften, einen Tunnel zu bauen, dann würde dies das Ende ihrer Welt bedeuten „Wir müssen sie aufhalten!“, sagte sie mit fester Stimme.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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