Ein Bild - Eine Geschichte
Heimkehr

Manuel blieb zögernd am Zaun stehen. Je weiter er gekommen war, desto schwerer waren ihm die Schritte gefallen, als ob mit jedem Schritt ein unsichtbares Gewicht auf seinen Schultern größer wurde. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Würde er willkommen sein? Er schaute über den Zaun auf die kleine Hütte. Die Fenster waren beschlagen und auf dem Dach türmte sich der Schnee der letzten Nacht.
Es hatte ebenfalls in der Nacht geschneit, in der Manuel heimlich sein Zuhause verlassen hatte. Es war ein Streit vorausgegangen. Ein Streit von vielen, aber dieses Mal war es genug gewesen. Wieder einmal hatte sein Vater ihm eine Maulschelle verpasst und gesagt, dass er zu nichts tauge, dass aus ihm nie ein vernünftiger Bauer werden würde.
Er hatte nie verstanden, dass Manuel kein Bauer werden wollte. Egal, wie sehr Manuel sich bemühte, er konnte mit Tieren nichts anfangen. Er würde den alten Gaul niemals dazu bringen, den Pflug in geraden Bahnen zu ziehen, oder die Kuh dazu, beim Melken stillzustehen. Wenn er das Saatgut ausbrachte, war es zu unregelmäßig, wenn er das Getreide drosch, schlug er nicht fest genug zu. In seines Vaters Augen machte er alles falsch und erntete regelmäßig Schläge dafür. Er war einfach nicht als Bauer geschaffen. Aber das hatte sein Vater nicht akzeptieren können. Und beim letzten Streit hatte Manuel genug gehabt. Sein kleiner Bruder hatte mit großen, verängstigten Augen stumm am Tisch gesessen, während seine Mutter versucht hatte, den Vater zu beruhigen.
In dieser Nacht hatte Manuel einige Kleidungsstücke in einen Beutel gepackt, etwas Brot und Käse aus der Küche genommen und einige Münzen aus der Dose, die unten im Geschirrschrank stand. Er war ausgezogen, um zu beweisen, dass er sehr wohl zu etwas taugte.
Manuel schluckte, sein Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Er hatte sich diesen Moment so oft vorgestellt. Er wollte mit erhobenem Haupt direkt in die Küche marschieren und seinen Beutel auf dem Tisch leeren. Er wollte nicht nur die gestohlenen Münzen mit Zinsen zurückzahlen, er hatte auch einige Geschenke dabei. Ein kleines, geschnitztes Pferd auf Rädern für den Bruder, für die Mutter einen Kerzenständer, eigenhändig gedreht, und für den Vater eine Pfeife. Alles Arbeit seiner eigenen Hände. Er wollte sich stolz in seiner Gesellentracht präsentieren und den Gesellenbrief vorzeigen, den er sich redlich verdient hatte. Zwei Jahre Lehre als Tischler und zwei Jahre Wanderschaft lagen nun hinter ihm. Er hatte viele Erfahrungen gesammelt und war selbstständig geworden. Er hatte eine feste Anstellung beim Tischlermeister im Dorf bekommen, dazu ein eigenes Zimmer und doch war er jetzt wieder der Junge, der Angst vor der Verachtung seines Vaters hatte.
Die Tür zur Hütte öffnete sich und sein kleiner Bruder stürmte jauchzend aus der Tür. Er nahm eine Hand voll Schnee und warf sie in die Höhe, dann ließ er sich rücklings fallen.
Seine Mutter erschien an der Tür. „Renko, steh sofort auf, du wirst noch ganz nass!“
Lachend kam Renko auf die Füße. Er war ein gutes Stück gewachsen, bestimmt musste er schon mit anpacken, aber er war immer noch ein kleiner Junge. Er warf wieder Schnee hoch, drehte sich jubelnd um die eigene Achse und entdeckte Manuel. Mit offenem Mund starrte er ihn an. Sein Mund formte lautlos Manuels Namen. Zögernd machte Manuel einige Schritte weiter am Zaun entlang und trat durch das offene Tor auf den Hof. Seine Mutter schlug mit aufgerissenen Augen die Hand vor den Mund.
Renko löste sich aus seiner Erstarrung. „Manuel!“ Er lief los und sprang Manuel in die Arme, umklammerte ihn mit seinen Beinen und drückte sein Gesicht an seine Wange. „Du bist wieder da!“
Manuel drückte ihn fest an sich, unfähig ein Wort zu sagen. „Du bist doch wieder da, oder?“ Renko sah ihn an und Manuel nickte stumm. Renko schmiegte sich wieder an ihn. „Ich wusste, dass du zurückkommst.“
Seine Mutter näherte sich unschlüssig. Tränen standen in ihren Augen. Manuel setzte Renko ab und streckte ihr die Arme entgegen. Mit einem Schluchzen drückte sie ihn fest an sich.
Er wagte es nicht, sie anzusehen. „Wie geht es ihm?“
Seine Mutter seufzte, löste sich ein Stück von ihm. Tiefe Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn. Manuel fürchtete sich vor der Antwort.
„Er hat es nie verkraftet, dass du uns verlassen hast.“
Manuel schluckte, Tränen stiegen ihm in die Augen. „Ich konnte nicht anders, ich habe es nicht mehr ausgehalten.“
Seine Mutter strich ihm sanft über die Wange. „Ich weiß. Und als er es verstanden hat, war es zu spät. Auch wenn er es nie zugeben würde, bin ich doch sicher, dass es ihm leidtut. Immer wenn er am Küchentisch sitzt und vor sich hinstarrt, wünscht er sich, dass er Einiges von dem, was er gesagt und getan hat, zurücknehmen könnte.“
Sie nahm seine Hand und zog ihn ins Haus.
Sein Vater saß am Küchentisch und stopfte sich seine alte Pfeife. Die Jahre hatten es nicht gut mit ihm gemeint. Sein Haar war grau und dünn geworden, seine Wangen eingefallen und faltig, die Schultern gebeugt. Sein Gesicht hatte den gleichen ablehnenden Ausdruck wie an jenem Abend. Manuel schluckte. Am liebsten hätte er sich vor diesem starren Blick verkrochen, doch er straffte die Schultern und sah seinen Vater abwartend an.
„So, du bist also nach all den Jahren zurückgekommen, nachdem du uns bestohlen und dich heimlich davongeschlichen hast?“ Sein Vater zog an der Pfeife und blies den Rauch in seine Richtung.
Wieder spürte Manuel den vertrauten Krampf in der Magengegend, doch diesmal würde er sich nicht wegducken. „Ich habe mir das Geld geliehen.“ Er öffnete seinen Beutel, holte den kleinen Sack mit Münzen heraus und warf ihn vor seinem Vater auf den Tisch.
Der zog ihn zu sich heran, schaute hinein und nickte dann langsam. Er musterte Manuel, als ob er ihn nun erst richtig wahrnehmen würde. Nach einer Ewigkeit, wie es Manuel schien, räusperte er sich. „Ich sehe, du hast eine Lehre gemacht und bist ein Geselle.“
Manuel nickte. „Ich bin Tischler.“
Sein Vater wiegte nachdenklich seinen Kopf hin und her. Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. „Ein ehrenwerter Beruf.“ Er zog den Stuhl neben sich vom Tisch zurück. „Komm, setz dich zu mir, Junge. Trink ein Bier mit mir und erzähl mir, wie es dir ergangen ist.“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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