Ein Bild - Eine Geschichte
Wolfsmensch

Suchend starrte Jan den Hang hinunter. An dieser Stelle war Nico letztes Jahr im Herbst abgerutscht. Warum musste er auch unbedingt so dicht an die Kante gehen, um ein Foto zu machen? Nicos Schrei, als die Kante unter ihm wegbrach und er in die Tiefe stürzte, hallte immer noch in Jans Ohren. Er würde es nie vergessen. Damals hatte er keine Kletterausrüstung dabei gehabt und konnte nur die Bergrettung alarmieren. Er hatte nach Nico gerufen und tatsächlich eine Antwort erhalten. Dann hatte er einen weiteren Schrei gehört, dem Stille folgte. Nico hatte auf seine weiteren Rufe nicht mehr reagiert.
Die Bergrettung hatte einige Tage den Hang abgesucht, doch bis auf einige Stofffetzen, die beim Sturz aus Nicos Jacke gerissen wurden, kein Zeichen von Nico gefunden. Weder seine Leiche noch sein Rucksack oder das Smartphone, das er noch in der Hand hatte, als er fiel, konnten entdeckt werden. Dann kam der Winter, lang und schneereich. Jan hatte oft an seinen Freund gedacht. Was war mit ihm geschehen? Hatte er noch gelebt und war von der Unfallstelle weggekrochen? Hätte man ihn retten können? Hätte er, Jan, mehr tun können? Diese Fragen hatten ihn den ganzen Winter über gequält und ihm den Schlaf geraubt.
Nun stand er an derselben Stelle. Er musste den Hang selbst absuchen, musste sich persönlich Gewissheit verschaffen. Er legte seine Kletterausrüstung an, befestigte das Seil an einem Baumstamm und machte sich vorsichtig an den Abstieg.
Steine bröckelten unter seinen Tritten und er war froh um das Seil, das ihn sicherte. Er fand einen Fetzen von Nicos Jacke, der immer noch am Felsen klebte, als Nico dran vorbeigeschrammt war. Jan erreichte einen kleinen Vorsprung und sah sich um. Von hier aus ging es weiter steil bergab. Er erinnerte sich, dass Nico noch recht nah geklungen hatte, bevor er das zweite Mal geschrien hatte. Allerdings war dieser Schrei abrupt verstummt, es hatte keine weiteren Geräusche eines Absturzes gegeben. Konnte Nico hier liegen geblieben sein? Aber dann hätte man ihn gefunden.
Jan lockerte das Seil und untersuchte die Felswand. Zwei Schritte weiter fand er eine Öffnung. Modrige Luft strömte ihm entgegen. Sie war groß genug, dass er sich hineinzwängen konnte. Er holte sein Smartphone raus und leuchtete in das Loch. Zunächst sah er nur Fels, dann fiel der Lichtkegel auf einen Turnschuh. Jans Puls beschleunigte sich. Das war Nicos Schuh, da war er ganz sicher. Wie kam der hierher und warum hatte man ihn nicht vor einem halben Jahr gefunden? Hatte die Suchmannschaft überhaupt den Höhleneingang entdeckt und hineingeschaut?
Jan zögerte. „Hallo?“, dann lauter: „Nico?“ Seine Rufe verhallten. Die Höhle musste weit in den Berg hineinreichen. Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Hineinsteigen und suchen, oder wieder die Bergrettung anrufen und von seinem Fund berichten? Er wusste nicht, wie stabil die Höhlendecke war, sie konnte ja jederzeit einstürzen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er sich nicht beeilen brauchte. Falls Nico den Sturz überlebt hatte, dann hatte er den langen kalten Winter sicher nicht überstanden, verletzt, wie er gewesen sein musste. Aber er wollte auch nicht unverrichteter Dinge zurückkehren. Er musste Gewissheit haben.
Er wollte schon das Seil losmachen, als es neben ihm knurrte. Der gleiche Geruch, der auch aus der Höhle kam, hüllte ihn ein und raubte ihm den Atem. Langsam wandte er den Kopf in die Richtung, aus der der Gestank kam. Neben ihm hockte ein etwa menschengroßes Wesen. Schwarzer verfilzter Pelz bedeckte seinen ganzen Körper, Geifer lief von spitzen gelben Zähnen aus dem geöffneten Maul, krallenbewehrte Klauen klammerten sich an den Fels. Seine Augen fixierten Jan. Jan konnte nur wie gelähmt zurückstarren. Das Wesen kam langsam näher. Jan lief Schweiß den Rücken hinunter. Das Einzige, was er denken konnte, war, dass die Augen des Wesens das gleiche helle Blau wie Nicos hatten.
„Nico?“ Jans Stimme zitterte.
Das Wesen zögerte, wich dann zurück. Jans Atem ging stoßweise. Wie konnte dieses Ding sein Freund sein?
Wieder knurrte es, doch diesmal hinter Jan. Er fuhr herum und hinter ihm hatte sich ein weiteres dieser Wesen aufgebaut. Es war ein gutes Stück größer und sah nicht aus, als ob es Jan verschonen wollte. Langsam dämmerte es Jan. Hatte dieses Wesen Nico gebissen und ihn irgendwie in das, was er jetzt war, verwandelt? Es war heller Tag, ein Werwolf, wie aus den Geschichten, konnte es nicht sein. Das Wolfswesen setzte zum Sprung an, wollte sich auf Jan stürzen, als er zur Seite gestoßen wurde. Nico stürzte sich auf den Angreifer und warf ihn zu Boden. Er sah sich zu Jan um, nickte ihm zu und jaulte dann auf, als das Wolfswesen ihm in den Hals biss. Er schlug seine Krallen tief in den Pelz des anderen. Zusammen rollten sie über den Felsvorsprung und stürzten in die Tiefe. Zitternd blieb Jan noch eine Weile auf dem Felsvorsprung stehen, bevor er sich an den Aufstieg machte.
Am nächsten Tag las er in der Zeitung, dass zwei Wanderer zwei merkwürdige Wolfsmenschen tot auf einem Wanderweg gefunden hatten. Nico war nun endgültig gestorben.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

Webseite von Sabine Kalkowski
Sabine Kalkowski auf Facebook
following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.