letzte Kanzelrede 2010 in Salvator

12. Dezember 2010
Salvatorkirche, 47051 Duisburg

"Wir sind so frei - wie frei sind wir wirklich? Jüdisches Leben in Deutschland heute." heißt die Kanzelrede, die Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, am Dritten Advent in der evangelischen Salvatorkirche in der Duisburger Innenstadt hält. Die Veranstaltung ist gut besucht, auch wenn viele vertraute Gesichter auftauchen.

"Vor 75 Jahren sollte Carl von Ossietzky den Friedensnobelpreis erhalten," führt die Rednerin in ihren Vortrag ein. "Von Ossietzky war Pazifist und saß in dieser Zeit schon im Konzentrationslager. Das deutsche Regime konnte die Preisverleihung verhindern. 1936 erhielt von Ossietzky den Preis dann zurückwirkend. Die Nationalsozialisten verhinderten, daß er ihn entgegennehmen konnte.

Dieses Jahr wiederholte sich diese Situation. China drohte allen Ländern, die an der Preisverleihung teilnehmen, mit wirtschaftlichen Konsequenzen. Insbesondere islamische Länder wie Iran, Irak, Marokko, Tunesien und Saudi-Arabien sagten daher ihre Teilnahme ab. Die Preisverleihung war eine Zeremonie der leeren Stühle. Es sagt viel über Mut, Freiheit und Feigheit aus. Drei Deutsche erhielten nach 1945 den Preis, nämlich Henry Kissinger, Willy Brandt und Albert Schweitzer,

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges waren die Herzen der überlebenden Juden zerrissen. Sollten sie dem Land eine 2. Chance geben? Oder vor der Angst kapituliere? Mein Vater entschied sich zum Bleiben. Ich selbst blieb widerwillig. Ich saß lange Zeit auf gepackten Koffern. Am 9. November 2003 legten wir den Grundstein für das neue jüdisches Zentrum in München. An diesem Tage wußte ich: Meine Entscheidung war richtig. Deutschland ist wieder eine Heimat, in der wir Juden wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blicken können.

Unser Staat garantiert in seiner Verfassung Freiheitsrechte. Noch nie waren die Leute so frei wie heute. Gesellschaftliche Konventionen, denen wir uns freiwillig unterwerfen, schränken uns aber ein. Wir ziehen die Grenzen der Freiheit in unseren Köpfen.

Ich durfte die Brücken schlagen, die Paul Spiegel und Ignatz Bubis als meine Amtsvorgänger begannen. Heute sind wir so nah dran wie nie, ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft zu sein. Die Juden machen heute 0,2 % der Bevölkerung aus. Das Judentum ist in Deutschland aber noch nicht selbstverständlich. Eine Muslima mit Kopftuch wirft in der Straßenbahn weniger Fragen auf als ein Jude mit Kippa. Wer hat sich schon mit einem lebenden Juden unterhalten? Systemische Unfreiheit beginnt schon bei der Sprache: Sind wir jüdische Mitbürger, deutsche Juden oder jüdische Deutsche? Sozialforscher schätzen, daß rund 20 % der nichtjüdischen Bevölkerung antijüdische Vorurteile haben. Wir brauchen Vorurteile, um in einer komplexeren und komplizierten Welt zurechtzukommen. Antisemiten nehmen den Juden aber ihre Existenz übel. Sie werden immer ihre Assimilierung oder Abgrenzung kritisieren.

Vor 1700 Jahren kamen erstmals Juden nach Deutschland. Sie kamen mit all´ ihrem Wissen und Hoffnungen. Sie assimilierten sich. Im 1. Weltkrieg konnten sie zeigen: Wir sind deutsche Patrioten. Von 80.000 jüdischen Frontsoldaten kamen 12.000 nicht wieder nach Hause. 35.000 wurden mit Orden ausgezeichnet. Dies konnte die Shoah nicht verhindern. Eine Stunde `0´, wie es sich einige vorstellen, konnte es nicht geben. Die Erinnerung ist unkündbar.

Ich wünsche mir, daß wir menschlich miteinander umgehen und unbekümmert übereinander denken. Die Leute, die Schuld und Schande auf sich geladen haben, sterben aus. Was bleibt, ist Verantwortung dafür, wie wir übereinander denken und wie wir einander begegnen. Junge Leute mögen die Gelegenheit haben, sich kennenzulernen."

Autor:

Andreas Rüdig aus Duisburg

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