Der hässliche Welpe von Angel Di Benedetto. Aus: Hühnersuppe für die Seele

Ich bin zwar kein Tibetterrier - wollte aber auch mal ins Netz!! (Ich - Rauhaardackel)
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  • hochgeladen von Marlene (Lena) Scheuren

Alles, was man liebt, ist wunderschön.
Jean Anouilh

Im Frühjahr 1980 lebte ich in Woodstock im Bundesstaat
New York, als meine Tibetterrierhündin Shadow
sechs Junge zur Welt brachte. Ich verkaufte den gesamten
Nachwuchs bis auf einen Welpen, den niemand
haben wollte. Tibetterrier sind für ihr glänzendes Fell
bekannt, das aus zwei Schichten besteht. Die untere ist
dick und baumwollartig, während die obere mit ihrem
seidigen Glanz an menschliches Haar erinnert. Die
Kombination dieser beiden Schichten gibt dem Hund
sein flauschiges Aussehen, das sehr beliebt ist. Auch das
wohlproportionierte Gesicht dieser Hunderasse wird oft
gerühmt. Mein Welpe besaß jedoch nichts von beidem.
Die kleine Hündin hatte eine zu lange Schnauze und ein
völlig unscheinbares Fell. Da die untere Schicht fehlte,
war die Oberschicht dünn und struppig. Sie sah aus wie
ein Vagabund, der es gerade noch vor dem Regen ins
Trockene geschafft hatte. Ein potenzieller Käufer meinte
stellvertretend für alle anderen Interessenten: »Sie
macht zwar einen zufriedenen Eindruck, aber ihr Äußeres
ist nicht gerade ansprechend.« Niemand wollte unsere
kleine Freundin, noch nicht einmal geschenkt!
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Ich war erstaunt, dass niemand die seltenen Qualitäten
dieser Hündin zu schätzen wusste. Sie war von Natur
aus glücklich, und obgleich alle Welpen Freude verströmen,
hatte sie einen sechsten Sinn, eine gewisse
spirituelle Präsenz, so als ob sie in die Menschen hineingucken
und sie zufriedener machen konnte.
Im Juni hatte ich die kleine Hündin immer noch,
denn ihr »Haarproblem« war nicht aus der Welt zu
schaffen. Ich musste in ein paar Tagen zurück an die
Uni und wollte unbedingt vorher noch jemanden finden,
bei dem sie gut aufgehoben war.
Eines Abends hatte ich eieine Idee. Ungefähr eine Meile
von meinem Wohnort entfernt lag ein tibetisches
Kloster, in dem ich ab und zu war, um zu meditieren.
Einige der dort lebenden tibetischen Mönche kannten
mich sogar persönlich. Vielleicht war einer von ihnen
willens, meine Hündin zu adoptieren. Es kam auf einen
Versuch an.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit meiner kleinen
Freundin zum Kloster. Als ich ankam, standen viele
Autos auf dem Parkplatz. Oje, hier ist es immer so ruhig
gewesen. Was geht hier vor?, dachte ich. Ich stieg
mit dem Welpen auf dem Arm aus dem Wagen und
ging die Stufen hoch bis zum vertrauten Eingangstor.
Als ich in die Eingangshalle trat, sah ich viele Menschen
von einer Wand zur anderen Schlange stehen. Sie
warteten offensichtlich auf etwas, das hinter den hand-
geschnitzten Innentüren stattfand. Plötzlich erblickte
ich ein bekanntes Gesicht. Es war ein Mönch, den ich
bei einem früheren Besuch kennen gelernt hatte. Als er
mich mit dem Hund sah, grinste er über das ganze Gesicht
und sagte: »Komm bitte mit.«
Er zog mich am Ärmel und stellte mich vor die wartende
Schlange. Nach einem speziellen Klopfzeichen
sprang die zweiflügelige Tür auf, und wir wurden von
einem weiteren Mönch begrüßt. Der eine Mönch flüsterte
dem anderen etwas ins Ohr, worauf dieser zustimmend
nickte. Die kleine Hündin und ich wurden daraufhin
an die Spitze einer weiteren Warteschlange geschoben,
in der Menschen standen, die alle irgendein
Geschenk in der Hand hielten, sei es eine Frucht, eine
Süßigkeit, eine Pflanze, wertvolle Schalen oder selbst
gemachte künstlerische Objekte.
Als ich zur Stirnseite des Raumes blickte, sah ich dort
jemanden mit großer Ausstrahlung und strahlenden
Augen sitzen, von Kopf bis Fuß in roten und goldgelben
Samt gehüllt. Dieser eindrucksvolle Mann schaute
zuerst auf meinen Welpen und blickte anschließend
mir direkt in die Augen. Er streckte seine offenen Hände
aus und sagte: »Ja, ja. O ja.« Er legte der kleinen
Hündin ein rotes Band um den Hals und sang dabei ein
mir unbekanntes Lied. Danach legte er auch mir singend
ein Band um den Hals und sang weiter, als er mir
langsam die kleine Hündin aus dem Arm nahm. Behut-
sam umhüllte er sie dabei mit seiner samtenen Robe. Er
nickte und verbeugte sich, wobei er etwas in einer
fremden Sprache sagte. Er legte mir kurz seine Hand
auf den Kopf und machte kehrt, um mit meinem Welpen
im Arm zu seinem Sitz zurückzukehren.
Der Mönch, der mich in den Raum geführt hatte,
sorgte nun dafür, dass ich schnell wieder draußen war.
In der Eingangshalle kamen andere Mönche hinzu und
führten mich durch das große Tor des Klosters nach
draußen. Da stand ich nun hundelos oben auf den Stufen
und sollte einen Moment warten.
Während ich wartete, durchströmte mich eine Woge
mütterlicher Besorgnis. Wo ist mein Hund, und was
geschieht mit ihm?, dachte ich. Ich wandte mich an einen
der Umstehenden und erzählte ihm, was ich in den
vergangenen fünfzehn Minuten erlebt hatte.
Er lächelte und erklärte mir, dass ich dem »Karmapa
«begegnet sei, einem sehr hoch stehenden Mönch in
der buddhistisch-tibetischen Tradition, der in der spirituellen
Hierarchie gleich hinter dem Dalai Lama komme.
Er erzählte mir, was für ein großes Glück ich habe,
weil heute der berühmte und geliebte Karmapa aus Tibet
hier sei, um das Kloster und das umliegende Land
zu segnen. Aus der ganzen Welt seien Menschen gekommen,
um ihm Geschenke zu bringen, aber nur wenige
hätten es geschafft, in den Raum vorzudringen, in
dem er die Geschenke in Empfang nehme. Dort hinein-
zugelangen und von Seiner Heiligkeit gesegnet zu werden
sei ein viel versprechendes Ereignis. Und dass er
auch noch mein großzügiges Geschenk so liebevoll aufgenommen
habe, sei ein Moment, wie er nur ganz selten
im Leben geschehe. Mein Gegenüber schüttelte ungläubig
den Kopf. »Du musst in vergangenen Leben
große Verdienste errungen haben, damit dir jetzt dieses
Glück zuteil werden konnte.« Nachdenklich schloss er
seine Augen für einen Moment und fügte hinzu: »Vielleicht
sind es aber auch die Verdienste deines Hundes!«
In diesem Augenblick flog das Eingangstor auf, und
dieser wunderbare buddhistische Mönch verließ das
Gebäude und schritt die mit einem roten Teppich bedeckten
Stufen hinab. Erhobenen Hauptes verabschiedete
er sich von den Frauen und Kindern, die ihn umringten
und ihm aus großen Blumenkörben Blüten vor
die Füße streuten.
Ich war von dem Anblick so bezaubert, dass ich den
Welpen im Arm des Karmapas anfangs gar nicht bemerkte.
Plötzlich jedoch stach mir meine kleine Hündin
in die Augen. Bislang hatten alle sie für hässlich gehalten,
aber nun sah sie ganz wundervoll aus! Der Karmapa
hielt sie stolz in die Höhe, und die Menge schrie
entzückt auf. Auch die Hündin schien mir außer sich
vor Freude zu sein.
Von nun an lief alles wie in Zeitlupe ab. Der Karmapa
schritt weiter mit dem Welpen im Arm die Treppe
hinunter. Unten angekommen, stieg er langsam in die
bereits wartende Limousine. Obwohl der Wagen von
einer Menschenmenge umzingelt wurde, erhaschte ich
einen letzten Blick auf den Hund und den Karmapa
hinter den getönten Scheiben. Als ich beide in der Limousine
zusammensitzen sah, wusste ich, dass es meine
kleine Hündin gut haben würde. Sie war jetzt nicht
einfach nur beim Karmapa, sondern saß direkt auf seinem
Schoß. Beide schienen in der kurzen Zeit viel Respekt
und Vertrauen füreinander gewonnen zu haben.
Und so fuhr die Limousine mit ihnen davon und
hinterließ einen Pfad farbenprächtiger Rosenblüten.
Die Mönche des Klosters informierten mich in der
Folgezeit immer wieder über die Abenteuer und Aufenthaltsorte
der kleinen Hündin. Ich hörte, wie der
Karmapa im Laufe der Jahre mit seiner Tibetterrierhündin
die ganze Welt bereiste. Der Karmapa schätzte
seine nicht menschliche Begleiterin über alle Maßen,
und so war sie während ihres ganzen Lebens nur sehr
selten von ihm getrennt. Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck
bescherte ihm und anderen immer ein Gefühl
der Freude, und daher gab er ihr einen tibetischen Namen,
der im Deutschen »Die wunderschöne Glückliche
« bedeutet. Sie wurde zu seiner Freundin und ergebenen
Begleiterin und verbrachte fast ihr ganzes Leben
an seiner Seite.
Anfangs hielten sie alle für hässlich, und niemand schätzte ihre
wahren Qualitäten, obwohl sie von Geburt
an pures Glück verströmte. Mir kommt es vor, als
hätte die wunderschöne Glückliche von Anfang an gewusst,
dass sie in diesem Leben ihrem wundervollen
Freund, dem Karmapa, begegnen würde, der ihre wahre
Schönheit schätzte und ihr großes Herz liebte.

Autor:

Marlene (Lena) Scheuren aus Gevelsberg

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