Die Heimat des Verbrechens

Dieser Ort ist wie das Zentrum des Bösen: Innerhalb eines Jahres geschehen 234 Morde – an zwei von drei Tagen wird ein Mensch erstochen, erschossen oder erschlagen.
David Simons ist ein Kriegsberichterstatter, doch er arbeitet nicht im Irak oder in Afghanistan, seine Artikel übermittelt er nicht aus dem Nahen Osten und er berichtet auch nicht über Bürgerkriegskonflikte in Afrika: Der Krieg, über den er schreibt, findet in Baltimore statt, einer Metropole an der Ostküste der Vereinigten Staaten.
Für sein Buch „Homicide“, das 1991 erschien und nun erstmals auf deutsch vorliegt, begleitete er ein Jahr lang die Detectives der Mordkommission Baltimore.
Auf über 800 Seiten zeichnet Simons in seiner literarischen Reportage das Bild der dunklen Seite Amerikas und führt dem Leser dabei vor Augen, wie sich wirtschaftlicher und sozialer Niedergang gemeinsam mit einem Kult der Gewalt zu einem tödlichen Hurrikan zusammen brauen: „Hier in Baltimore, wo schon lange kaum noch Massenproduktion stattfand, war die Fabrikation von Kummer eine Wachstumsproduktion geworden.“
Mit einer beinahe kindlichen Freude an Fakten und gesegnet mit einer unglaublichen Beobachtungsgabe begleitet Simons die Mordermittler durch das gewaltreiche Jahr 1988. Dem Leser wachsen die Cops schnell ans Herz: Donald Worden, ein abgeklärter Ermittler am Ende seiner Karriere, Harry Edgerton, ein schwarzer Cop in einer überwiegend weißen Einheit, Jay Landsmann, der Komiker oder Tom Pellegrini, ein engagierter junger Detective, der erst vor kurzem ins Morddezernat gekommen ist und den schwierigsten Fall des Jahres aufklären will – die brutale Vergewaltigung und Ermordung eines elfjährigen Mädchens.
Schon nach den ersten Fällen kennen Sie den kriminalistischen Dreisatz jeder Mordermittlung: „Spuren. Zeugen. Geständnisse.“ Aber Sie erfahren leider auch sehr schnell: „Es gibt ihn, den perfekten Mord.“
„Homicide“ ist mit seiner detailreichen Schilderung von Leichen, Tatorten und Autopsien streckenweise nur schwer zu ertragen, aber die Reportage ist so gut geschrieben, das man die Augen einfach nicht von den Seiten nehmen kann. Wenn Sie das Buch schließlich aus den Händen legen und immer noch süchtig sind, schauen Sie sich die Fernsehserie „The Wire“ an, die auf „Homicide“ basiert und von David Simons geschrieben und produziert wurde.

David Simon / Homicide / 826 Seiten / Antje Kunstmann Verlag

Autor:

Jens Holsteg aus Herdecke

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