Leben wir im Zeitwahnsinn? – Wo hat der Wahn im Umgang mit der Zeit seinen U(h)r-Sprung?

Dr. Albert Wunsch
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Ökumenischer Aktionskreis „Ohne Sonntag gibt's nur noch Werktage“ lud zum Gesprächsabend ein

„Schon das Alte Testament gibt im Buch Kohelet einen guten Denkanstoß zum Thema Zeit, wenn es feststellt: ’Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit’. Der moderne Mensch dagegen, ‚beschleunige sich zu Tode’ oder leide unter einem ‚rasanten Stillstand’ (Richard David Precht).“ Mit diesen Worten brachte Dr. Albert Wunsch, Psychologe, Buchautor und promovierter Erziehungswissenschaftler aus Neuss, das Dilemma der heutigen Zeit auf den Punkt. Er sprach auf einer Veranstaltung, zu der der Ökumenische Aktionskreis „Ohne Sonntag gibt's nur noch Werktage“ unter dem Motto „Leben wir im Zeitwahnsinn? – Gott schuf die Zeit, von der Eile hat er nichts gesagt!“ in die Evangelische Friedenskirche in Baumberg eingeladen hatte.

Wo hat der Wahn im Umgang mit der Zeit seinen U(h)r-Sprung?

Da sich die Zeitabfolge nicht ändere, so Wunsch weiter, sollten wir uns fragen, wie der Wahnsinn die Zeit infizierte? Als Wahnsinn oder Verrücktheit bezeichne man meist jene Verhaltens- oder Denk-Muster, die nicht der akzeptierten Norm entsprächen. Demnach bestimmten gesellschaftliche Konventionen, was als „Wahnsinn“ verstanden werde. „Konkret: Ein ver-rückter Umgang produziert somit den Wahn.“ Der französische Philosoph Voltaire habe Recht, wenn er sage: „Es ist schon paradox. In der einen Hälfte unseres Lebens opfern wir die Gesundheit, um Geld zu erwerben. In der anderen opfern wir Geld, um die Gesundheit wiederzuerlangen. Und in dieser Zeit gehen Gesundheit und Leben von dannen.“

Der Referent belegte dies mit einigen Fakten: Stress als Folge einer zu großen Belastung in Beruf, Familie oder im Freizeitbereich führe auf Dauer zu den unterschiedlichsten psycho-somatischen Erkrankungen und äußere sich als körperliche, emotionale und geistige Erschöpfung bzw. als eine stark reduzierte Leistungsfähigkeit. Das Burnout-Syndrom (engl. burn out ‚ausbrennen‘) führe auf Dauer zu Organstörungen, Desillusionierungen, Apathie, Depression oder Aggressivität und einer stark erhöhten Sucht- bzw. Suizidgefährdung.

Die Zahl der Krankenhaustage wegen physischer Erkrankungen habe sich von 1,3 Mio. im Jahre 1999 auf 3,4 Mio. im Jahre 2012 mehr als verdoppelt. Und während körperliche Erkrankungen im Durchschnitt eine Arbeitsunfähigkeit von elf Tagen verursachten, brauchten psychisch Erkrankte fast die vierfache Zeit, nämlich rund 40 Tage, um wieder einsatzfähig zu sein. „So haben sich Erschöpfung, Stress und Burnout zu Europas neuer Volkskrankheit entwickelt - zur Pest globaler Prozesse!“

„Feuer und Flamme statt Burnout!“

Um diesem Phänomen Herr zu werden, versuche man mit Seminaren dagegen anzukämpfen. „Feuer und Flamme statt Burnout!“ laute dann beispielsweise der Titel einer Fortbildung zur Vermeidung von Stress und Burnout. Häufig konzentrierten sich solche Seminare dann auf das Zauber-Wort: Zeitmanagement. So solle Einzelnen oder Gruppen mit „zielführenden Arbeits- und Planungstechniken“ geholfen werden, den Umgang mit der Zeit zu verbessern, weil Zeit die einzige Ressource sei, die weder aufgehoben, noch – wenn verschwendet – zurück gewonnen werden könne. Zeitmanagement sei somit eine wichtige Methode des Selbst-Managements. „Gelingen bzw. Misslingen liegt aber nicht an der Qualität des Zeitmanagements, sondern an Kraft und Mut, sich vom jeweiligen Ziel nicht abbringen zu lassen“, so Albert Wunsch.

Was markiert ein stabiles Ich?

Das setze aber ein „stabiles Ich“ voraus. Ein solches „Ich“ lasse sich nicht vom „ersten Gegenwind“ umpusten, sehe sicht nicht als den Mittelpunkt der Welt, bringe sich in die Gemeinschaft ein, gehe gekonnt mit Spannungen und Konflikten um, könne nachgeben ohne aufzugeben und schaffe sich einen Gelassenheits-Vorrat an. Frei nach dem Motto: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“ (Reinhold Niebuhr, amerikanischer Theologe, Philosoph und Politikwissenschaftler).

Kurzum: Es brauche eine ausgeprägte Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, um dann entsprechend handeln zu können. Ergänzend brauche man, um im Gleich-Gewicht zu bleiben - oder wieder hinein zu kommen - als Antriebs- und Stabilisierungs-Hilfe etwas Sicherheit-Bietendes bzw. Sinn-Stiftendes. „Hierzu gehört beispielsweise eine stabile und erfüllende Eingebundenheit in Partnerschaft, Ehe, Familie und Freundeskreisen sowie ein perspektiv- und haltgebendes berufliches Umfeld“, unterstrich Wunsch.

Von daher sei auch die Religion ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Und viele Menschen sprächen trotz deutlicher Trends zur Ent-Christlichung der Religion eine Schlüsselrolle für die persönliche Orientierung zu. Gregor Gysi bekannte sogar: „Auch als Nicht-Gläubiger fürchte ich eine gottlose Gesellschaft.“ Und Ex-Außenminister Joschka Fischer schrieb 1992: Eine „Ethik ohne religiöse Fundierung“ scheint „einfach nicht zu funktionieren“. Letztlich stelle sich die Frage: Was motiviert mich, trägt in die Zukunft, macht Sinn?

In der anschließenden Diskussion wurde das Thema noch vertieft. Dabei waren sich die zahlreichen Teilnehmer einig, dass Zeitmangel immer sehr subjektiv gesehen werde. Letztlich habe man immer Zeit für Dinge, die einem wichtig seien.

Im Ökumenischen Aktionskreis "Ohne Sonntag gibt's nur noch Werktage" arbeiten seit über zehn Jahren die evangelische Kirche in Monheim, die katholischen Kirchengemeinden und Verbände KAB, kfd und KKV im Bereich Langenfeld/Monheim mit, um vor allem den Sinn des Sonntags aber auch der freien Zeit stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken.

Dr. Albert Wunsch
Interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer
Autor:

Bernd-M. Wehner aus Monheim am Rhein

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