Vorlesen ist reine Nervensache

Ihr Herz schlägt schnell, doch Vorleserin Sevde Gemici lässt sich nichts anmerken. Foto: Meyer
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  • hochgeladen von Martin Meyer

Voller Überraschung reißt Sevde Gemici die Augen auf. Sie hat den Vorlesewettbewerb für Viertklässler gewonnen. Als die Zuhörer anfangen zu klatschen, zeigt sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln. Sie hat es geschafft, dabei war sie doch vorher so aufgeregt. Auch mein Herz schlägt an diesem Tag schneller. Für den Stadtspiegel sitze ich als Jurymitglied in der ersten Reihe.
Sevde Gemici war eine von elf Teilnehmern der diesjährigen Endrunde des Vorlesewettbewerbs. Sie stellte sich der großen Herausforderung und las im Willy-Brand-Haus vor einer Jury, die aus Medienvertretern und dem Leiter der Stadtbücherei, Hans-Joachim Fingerle, bestand, vor. Meine Aufgabe bestand darin, die Vorträg der Schüler zu beurteilen. Gar nicht mal so einfach. Schließlich möchte man als Jurymitglied jeden Teilnehmer gleich behandeln.
Als Sevde auf die Bühne kommt, sieht man ihr die Nervosität nicht an. „Ich war ganz schön aufgeregt“, gab die Schülerin der Grundschule an der Auguststraße hinterher aber zu. Auch als sie ihr Buch „Die Brüder Löwenherz“ aufschlägt und die ersten Sätze vorträgt, ist von Aufregung nichts zu sehen. Dabei starren sie zahlreiche Augen an und im Sitzungssaal steigt das Termometer auf „Saunatemperatur“.
Selbst die Moderatorin des Wettbewerbs, Alexandra Oidtmann, Leiterin der Kinder- und Jugendbücherei der Stadt, ist deutlich nervöser als die Schülerin. Auch ich komme ins Stottern, als sich alle Juroren mit dem Mikrofon in der Hand im voll besetzen Sitzungssaal vorstellen sollen. Dabei beschränkte sich meine Bühnenerfahrung bis dahin auf eine Theateraufführung in der Grundschule.
Sevde hingegen trägt in vier Minuten ruhig eine Passage aus ihrem Buch vor. Das anwesende Publikum spendet dafür ordentlich Applaus.
Seit gut zehn Jahren veranstaltet die Recklinghäuser Stadtbücherei die Vorlesewettbewerb für Grundschüler. Die Initialzündung ging damals vom Kulturausschuss der Stadt aus. „Wir wollen die Schüler spielerisch von ihren I-Pods wegholen und sie ans Lesen bekommen“, sagt Hans-Joachim Fingerle.
Die Idee kam fast immer gut an. „Der Wettbewerbsgedanke ist bei manche Pädagogen nicht sehr beliebt“, meint der Leiter der Stadtbücherei. Den Schülern gefällt sie aber. So waren diesmal erstmals mehr als zehn Teilnehmer für die Endausscheidung angemeldet. Die Entscheidung, welchen Schüler sie zu dem Wettbewerb ins Willy-Brand-Haus geschicken, entschieden die Schulen intern.
Die Entscheidung, wer nun der beste Vorleser unter Recklinghausens Grundschülern ist, fällten wir Jurymitglieder. In einem Extra-Raum, abgetrennt von den neugierigen Ohren und Augen der anwesenden Eltern, Klassenkameraden und Freunden der Schüler zerbrachen wir uns über eine halbe Stunde den Kopf.
Am Ende gab es dann doch eine Gewinnerin und viele zweite Sieger, die mit einem Buch und einem Büchergutschein über zehn Euro für ihre Teilnahme belohnt wurden. Die Siegerin bekam einen Gutschein über 20 Euro und ein Buch.
Mir hat sie hinterher ihr Geheimnis verraten. Sie ist scheinbar ein Naturtalent. „Ich habe vor meiner Klasse gelesen, aber noch nie vor so vielen Fremden.“ Und üben muss sie auch nur ein bisschen. Sie habe, so Sevde weiter, nur drei Tage, jeweils eine Viertelstunde, trainiert.

Autor:

Martin Meyer aus Datteln

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