Karl Mays magischer Orient
Der Herrscher der Tiefe

Cover von "Karl Mays magischer Orient" | Foto: Karl May Verlag Bamber Radebeul
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Ich bin Autorin und lebe in Neviges. Aktuell wurde ich für eine meiner Science-Fiction-Kurzgeschichten mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.
Doch ich schreibe auch Fantasy und arbeite an der Fantasy-Reihe "Karl Mays magischer Orient" des Karl May Verlags mit. Von mir dort erschienen sind die Kurzgeschichten "Das Vermächtnis des Kara" und "Durchs wilde Ernstthal". "Das Vermächtnis des Kara" könnt ihr auf TOR Online gratis lesen. Wenn es euch gefallen hat, dürft ihr mir dort auch gern ein Herzchen zurücklassen. Beide Geschichten erschienen in "Auf phantastischen Pfaden".
Desweiteren steuerte ich die Episode "Die Königin von Saba" zum Episoden-Roman "Sklavin und Königin" bei. In der Reihe sind zudem zwei Romane von mir erschienen:
"Der Herrscher der Tiefe" und "Das Geheimnis des Lamassu".
Heute möchte ich euch den "Herrscher der Tiefe" vorstellen. Der Roman ist ein CrossOver zwischen Karl May und Jules Verne. Dabei treffen Kara Ben Nemsi und Kapitän Nemo aufeinander. Es ist zugleich eine Hommage an Jules Verne, denn der kundige Leser wird viele Anspielungen auf Verne-Werke darin wiederfinden.

Der Epilog stammt vom Bestseller-Autor Bernhard Hennen.

Inhalt:
Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, Scheich Haschim und Djamila erfahren von britischen Agenten, dass Sir David Lindsay bei der Suche nach dem Palast des Minos in einer geheimnisvollen Höhle auf Kreta verschollen ist. Die Freunde machen sich mit dem britischen Captain MacLean auf, den Lord zu finden. Dabei entpuppt sich die idyllisch wirkende Mittelmeerinsel als gefährliche Falle. Sie bekommen es nicht nur mit todbringenden Geschöpfen zu tun, sondern auch mit kretischen Rebellen.
Schließlich geraten sie bei ihrer Suche in die Fänge des Kapitän Nemo und werden auf seinem geheimnisvollen U-Boot Nautilus gefangen gehalten. In einem Wettstreit zwischen Technik und Magie entbrennt ein Kampf um Leben und Tod, während dem sich Kara Ben Nemsi zwischen Wissensdurst und Freiheit entscheiden muss.

Seiten: 480
Format: 13,5 x 21,5 cm
Umschlag: Klappenbroschur (mit Lackfolien-Veredelung)
Titelbild: Elif Siebenpfeiffer
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: Karl-May-Verlag GmbH
Bestell-Nr: 02507
ISBN: 978-3-7802-2507-8
Preis: € 20,- [D]

Zu bestellen ist das Buch in jeder Buchhandlung, auch bei Rüger, Kape und Thalia Velbert, ebenso bei Amazon und natürlich beim Verlag.

Weitere Infos über mich:
Meine Homepage
Karl May Wiki
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Exodus-Magazin

Leseprobe:

Aus Kapitel 14 – Aufbruch in die Tiefe


Ich stand neben MacLean vor dem gähnenden Schlund, der ins Innere des kretischen Gebirges führte. Hinter uns hatten sich Halef, Haschim und Djamila postiert. Der Höhleneingang blickte uns dunkel und unheimlich entgegen.
„Jetzt werden wir sehen, was diese Unterwelt für Schrecken bereithält, Sihdi.“
„Ich denke, Halef, dass wir nur dem Schrecken dort unten begegnen, den wir selbst mitnehmen.“
„Wie meinst du das?“, fragte mein Freund und trat an meine Seite.
„Ich meine, dass dort unten nichts ist, außer der Angst, die wir in uns tragen.“
„Aber wieso ist der Lord dann nicht wieder zurückgekehrt?“
„Vielleicht wurde ihm der Rückweg durch einen Bergsturz verschüttet. Hier gibt es ständig kleinere und größere Erdbeben, wie wir selbst schon erfahren haben.“
„Das ist durchaus möglich, Mister Kara“, gab mir MacLean Recht.
Halef wiegte skeptisch den Kopf.
„Dieser Ort hat keine gute Aura. Er sendet etwas Böses aus“, flüsterte Haschim. Dann fasste er in eine Tasche seines Gewands und zog den runden Talisman hervor, welchen wir im Haus des Minos gefunden hatten. „Um dich vor bösen Mächten zu beschützen, werden dir die Worte der Artemis nützen ...“, hörten wir Scheik Haschim diese magischen Worte sprechen, die auf der goldenen Scheibe standen und von Lindsay ins Englische übersetzt worden waren. „Ich bin bereit und gewappnet“, endete er schließlich feierlich, entzündete eine Fackel und schritt voran in die Finsternis. Sein Umhang wehte wallend hinter ihm her, als wolle er uns locken, ihm zu folgen. Was wir denn auch taten. Halef nahm seine magische Leuchtkugel zur Hand und der Captain, Djamila sowie ich zündeten ebenfalls Fackeln an, um uns in der Dunkelheit der Stollen orientieren zu können. So tauchten wir ein in die unterirdische Höhlenwelt Kretas.
Zunächst folgten wir dem Hauptgang nach Süden, dessen Boden sich leicht nach unten neigte. Ich blickte mich ein letztes Mal um und sah das Sonnenlicht in den Eingang scheinen. Als wir einer Windung des Gangs folgten, verschwand es auf ungewisse Zeit aus meinen Augen. Dies war ein seltsames Gefühl, denn ich liebte die Weite der Prärie und der Wüste, fand mich auch in Schluchten und tiefen Wäldern zurecht. Stets jedoch spannte sich über mir der Himmel, besetzt mit Sonne, Mond und Sternen – je nachdem, welche Tageszeit herrschte. Nun aber wölbte sich über mir massiver Fels. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich allerdings, dass die Wände der Höhle aus großen behauenen Steinen bestanden. Sie waren sorgsam auf Fuge gesetzt. Das verwunderte mich, denn ich hatte etwas völlig anderes erwartet. Diese Höhle war demnach nicht natürlichen Ursprungs, sondern von Menschenhand geschaffen. Die Verwitterung der Steine, der Bewuchs mit Flechten an feuchten Stellen und die kleinen Tropfsteine, die sich an manchem Vorsprung gebildet hatten, zeugten von vielen Jahrhunderten, gar Jahrtausenden, die diese Mauern schon überdauert hatten. Ich fragte mich, wer ihre Baumeister gewesen waren und zu welchem Zweck sie errichtet wurden. War dies tatsächlich das sagenumwobene Labyrinth, welches König Minos für den grausigen Minotaurus errichten ließ?
Wie auf der Karte eingezeichnet, zweigten hin und wieder Seitengänge ab. Ich untersuchte die Eingänge zu den Abzweigungen jeweils nach eventuellen Spuren, die Lindsay wissentlich oder unbeabsichtigt hinterlassen haben könnte, doch fand ich nichts. Schließlich teilte sich der Weg in drei Tunnel auf. Ab hier endeten die Aufzeichnungen von MacLeans Leuten. Nun hatten wir selbst zu entscheiden, welchen der drei Gänge wir nehmen sollten. Wir ließen zunächst Haschim mit seinen magischen Sinnen den Vortritt. Er schritt die Eingänge der Reihe nach ab, lauschte, schloss die Augen, befühlte den Stein, doch konnte er uns keinen Rat erteilen. Also untersuchten der Captain und ich das Gestein um die Durchgänge herum nach möglichen Spuren. Über einem der Eingänge war tatsächlich etwas in den Stein geritzt. Mir wäre es nicht aufgefallen, wenn MacLean nicht mit der Fackel in einem bestimmten Winkel darüber geleuchtet hätte. So wurden die Ritzungen reliefartig hervorgehoben.
„Li...“, las ich und assoziierte seltsamerweise sofort Lidenbrock damit. Wie kam ich auf diesen Namen? Nun, ich musste mir eingestehen, dass ich das phantastische Werk dieses Franzosen tatsächlich gelesen hatte. Vor vier Jahren war es in deutscher Sprache erschienen. Natürlich war ich mir bewusst gewesen, dass solch eine Reise zum Mittelpunkt der Erde nur der Fantasie entsprungen sein konnte. Ganz im Gegensatz zu meiner Reise, die ich in diesem Augenblick unternahm. Ich musste unwillkürlich lächeln. Und natürlich stand dort nicht Lidenbrock in das Gestein geritzt, sondern Lindsay. Ja, unser guter Lord hatte vorgesorgt.
„O Sihdi, Lord Lindsay hat ebenfalls Brotkrumen ausgestreut wie Hänsel und Gretel, von denen du mir erzählt hast.“
„Es sieht wirklich danach aus, Halef“, antwortete ich erfreut.
Also begaben wir uns den Zeichen folgend in den rechten der drei Gänge. Der Stollen wurde sehr eng und wir mussten gebückt hintereinander herlaufen. Das Mauerwerk, welches uns bis jetzt umschlossen hatte, schien nun allmählich in die natürliche Gesteinsformation hineinzuwachsen. Dies mag sich seltsam anhören, doch es drückt genau das aus, was ich sah. Die verwendeten Steine, grob behauen, wie sie waren, gingen in den Fels über. Sie verschwammen darin wie Farben in einem Aquarell. Vielleicht musste ich die Sache auch von der anderen Seite betrachten. Womöglich waren die Steine nicht in die Felswand hineingewachsen, sondern aus ihr heraus geboren. Ich vermochte es nicht zu sagen. Nach wenigen Metern allerdings war nichts mehr von Mauerwerk zu erkennen. Der Stollen wand sich nun wie ein von einem Riesenwurm erschaffener Gang vor uns her, fast rund im Durchmesser, aber mit unregelmäßigen Kanten. Der Fels war von verschiedenfarbigen Linien durchzogen. Dies mochten unterschiedliche Gesteinsarten sein oder auch Mineralien oder Metall. Die Enge des waagerechten Schlots ließ keine genaue Untersuchung zu. Wir versuchten schnellstmöglich vorwärtszukommen.
„Sind dies Vulkanschlote, aus denen einst Lava strömte?“, fragte ich trotz der Eile den Captain. Als studierter Geologe hatte er sicher eine Antwort darauf.
„Nein“, entgegnete Sean MacLean. „Kreta liegt in der Subduktionszone. Dort schiebt sich die afrikanische Platte unter die eurasische. Dies verursacht jede Menge Erdbeben, jedoch keine Vulkanausbrüche in dieser Gegend. Diese Höhlen sind also keine Schlote, welche durch aufsteigendes Magma gebildet wurden. Vielleicht sind sie durch Verwerfungen, Verschiebungen oder dergleichen bei größeren Erdbeben entstanden. Die Vulkankette, die sich dieser Zone anschließt, liegt weiter nördlich.“
„Aber dieser fast runde Querschnitt ist äußerst ungewöhnlich“, gab ich zu bedenken.
„Das stimmt, Mister Kara. Dafür habe ich im Moment auch keine Erklärung.“ MacLean befühlte interessiert die Wand des seltsamen Stollens und schüttelte schließlich den Kopf. „Mein Wissen ist hier leider am Ende.“
In diesem Moment weitete sich der enge Gang und mündete schließlich in einen großen unterirdischen Hohlraum. Unsere Fackeln und Halefs Kugel beleuchteten eine riesige Höhle. Von Vorsprüngen hoch über unseren Köpfen hingen gewaltige Stalaktiten herab. Sie glitzerten und schillerten, als wären sie mit unzähligen winzigen Diamanten besetzt, in den verschiedensten Farben des Regenbogens.
„Oh“ hörte ich von Halef und „Ah“ von Djamila.
Vom Boden wuchsen ihre Gegenstücke – die Stalagmiten – empor, hoch wie Türme. Auch diese glitzerten und funkelten in unserem Licht.
„Das ist wunderschön“, gestand unser sonst so zurückhaltender Haschim.
Auch der Captain war sichtlich beeindruckt und betastete einen der mächtigen Tropfsteine. „Diese Sintertürme sind sicher mehrere tausend Jahre alt. Aber aus der Größe allein lässt sich auf das Alter leider nicht rückschließen. Es gibt so viele Faktoren, welche die Wachstumsgeschwindigkeit beeinflussen.“
„So stimmt es nicht, dass Tropfsteine acht bis fünfzehn Zentimeter pro einhundert Jahre wachsen?“
„Ja und nein, Mister Kara. Am Anfang wächst so ein Stalaktit sicher schneller. Später langsamer, da das Material sich über einen größeren Bereich ansiedeln muss.“
„Das Material scheint mir hier auch ein wenig seltsam. Normalerweise bestehen diese Steine doch aus Kalkablagerungen. Oder was meinen Sie, Captain?“
„Das stimmt. Seltener auch aus Diadochit. Aber hier ist das Material fast schon kristalliner Struktur. Sehr ungewöhnlich. Davon habe ich noch nie gehört.“
Auch ich hatte noch nie zuvor so etwas gesehen. Ein Stück weit entfernt erkannte ich regelrechte Vorhänge aus diesem funkelnden Tropfstein. In leichten Wellen hingen sie von Vorsprüngen herab. Ich blickte hinauf an deren Entstehungsort und musste feststellen, dass es bei Weitem nicht das obere Ende der Höhle war, von dem sie herabhingen. Als ich meinen Blick weiter empor in das unendlich hoch erscheinende Gewölbe der Halle wandern ließ, stutzte ich.
„Haschim, Djamila und Captain MacLean, löscht eure Fackeln“, forderte ich meine Freunde auf. Die drei sahen mich ungläubig an. Ich ging mit gutem Beispiel voran und erstickte meine Flamme in einer Kuhle an der Höhlenwand.
„Was ist mit meiner Kugel, Sihdi?“
„Auch ihr Licht werden wir nicht benötigen“, erwiderte ich.
„Aber Mister Kara, in diesem unterirdischen Reich werden wir ohne unsere Fackeln die Hand vor Augen nicht erkennen. Was bezwecken Sie damit?“
„Keine Furcht, Captain, wir werden durchaus etwas sehen. Vertrauen Sie mir!“
Der Captain blickte mir fest in die Augen, nickte und löschte schließlich die Flamme an seiner Fackel aus. Haschim und Djamila taten es ihm gleich.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich blind. Die Dunkelheit, die mich umgab, konnte ich nicht durchdringen, so, wie es der Captain vorausgesagt hatte. Doch dieser Zustand währte nur sehr kurz. Die Augen mussten sich erst an die ungewöhnlichen Verhältnisse gewöhnen, denn in der Höhle herrschte durchaus keine Dunkelheit. Ich konnte mit einem Mal recht gut sehen. Ein fluoreszierendes Leuchten strahlte vom Deckengewölbe herab oder von einer undefinierbaren Wolke, die dort gefangen schien. Meine Freunde blickten fasziniert hinauf.
„Was ist das?“, fragte Haschim.
„Vielleicht funktioniert es wie meine magische Kugel“, meinte Halef.
„Ich denke eher, es ist ein leuchtendes Gas, welches sich dort oben verfangen hat“, antwortete ich. „Phosphordämpfe zum Beispiel sollen bei Oxidation mit Luftsauerstoff leuchten.“
„Vielleicht sind es auch unzählige Glühwürmchen, die da oben leuchten“, gab MacLean mit dem Kopf im Nacken von sich. „Auf jeden Fall ist es äußerst faszinierend. So etwas habe ich noch nie zu Gesicht bekommen. Aber seht!“ Er zeigte mit dem Arm hinauf und wir nahmen alle einen flackernden Lichtstreif wahr. „Ein Blitz! Oder was könnte das gewesen sein?“, rief der Captain aus.
„In der Tat. Es wirkte wie eine elektrische Entladung“, antwortete ich. Und augenblicklich veränderte sich das Licht. Der vorherrschende weißliche Ton wurde von grünen und violetten Schlieren durchzogen. Das Farbenband flackerte und bewegte sich in steten Wellen, als würde eine sanfte Brise hindurchstreichen.
„Aurora Boreales“, stieß ich verblüfft aus.
„Was bedeutet das, Sihdi?“ Halef blickte teils fasziniert, teils irritiert hinauf zu dem überwältigenden bunten Flimmern.
„Nordlicht. Es sieht aus wie ein Nordlicht“, antwortete MacLean an meiner statt.
„Oh, Onkel Kara, ich würde zu gern hinaufklettern und mir das näher anschauen“, wünschte sich Djamila mit leuchtenden Augen.
„Das würde ich auch gern, Djamila, doch das müssen mehr als tausend Meter sein. Ohne geeignete Ausrüstung ist das nicht zu bewältigen.“
„Das scheint ein überaus interessantes Phänomen zu sein. Sehr bedauerlich, dass wir weder Zeit noch die Mittel haben, es genauer zu studieren“, meinte auch der Captain betrübt.
Wie ich brannte auch MacLean darauf, die Erscheinung zu erforschen. Ich war wirklich niedergeschlagen. Denn dieses Licht hätte sich bestimmt positiv für die Menschheit nutzen lassen. Doch ohne die Möglichkeit, hinauf in das Gewölbe zu gelangen, und ohne jedwede technische Apparatur, um es untersuchen zu können, blieb uns nichts weiter übrig, als hier unten zu stehen und es staunend zu betrachten.
Der bunte Farbenreigen spiegelte sich in den glitzernden Stalagmiten und Stalaktiten wider, wurde an die Höhlenwände geworfen und tauchte uns in ein Farbenspiel, als befänden wir uns in jenem Wasserfall, der uns aus dem Reich Saba entlassen hatte. Die Pracht dieser Höhle war bezaubernd. Und doch beschlich mich ein seltsames Gefühl, als hätte ich dies schon einmal irgendwo gesehen, obwohl mir nicht einfallen mochte, wann und wo dies gewesen sein sollte. Ich blickte mich um und konnte gewaltige Säulen erkennen, wo die Tropfsteine zusammengewachsen waren. Fast wirkte es, als seien es die Stützen des unterirdischen Himmelsgewölbes über unseren Köpfen. Bei diesem Gedanken durchzuckte es mich. Nun erinnerte ich mich, wo ich dies alles schon einmal gesehen hatte. Und zwar in meinem Kopf! Mit meinem inneren Auge, als ich jenen Roman gelesen hatte, den ich jüngst erst hier erwähnte. Waren die Ausführungen des Franzosen möglicherweise doch keine Hirngespinste seiner überbordenden Phantasie? Hatte er seine Beschreibungen wahrhaftig selbst gesehen und erlebt? Nein! Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Das konnte nicht sein.
„Was ist dir, Sihdi?“, fragte Halef besorgt.
„Ach nichts“, antwortete ich. „Ich hatte nur einen seltsamen Gedanken.“
„Bei diesem Anblick ist dies nicht verwunderlich“, erwiderte mein Freund. „Das hier ist wahrlich ein seltsamer Ort. Doch kann ich nun verstehen, dass der Lord ihn finden wollte.“
Ach ja, der Lord. Ich war so in diese phantastische Welt versunken, dass ich beinahe den Grund unseres Ausflugs in die mythische Höhlenwelt vergessen hätte.
„Wie sollen wir vorgehen, Mister Kara? Diese Höhle hier scheint mir riesig und unübersichtlich. Seht, es gibt zahlreiche Abzweige und Verwinkelungen. Wir müssen uns etwas überlegen, um wieder herauszufinden.“
„Da haben Sie durchaus Recht, Captain MacLean. Und mir fällt auch schon etwas Passendes ein.“ Ich fasste in eine meiner Taschen, und als ich das Gesuchte in meiner Hand spürte, durchzuckte mich wieder diese elektrische Entladung, wie schon damals am Marktstand des alten Mütterchens. Ich ließ es mir nicht anmerken, sondern zog die Garnspule aus meinem Gewand, die ich in Kyrenia auf Zypern zu Beginn unseres Abenteuers erstanden hatte. Dann knüpfte ich das lose Ende an einem Stalagmiten fest, der sich nahe des Höhlendurchgangs befand, aus dem wir hier in das Gewölbe gekommen waren. Die Spule befestigte ich so an meinem Gewand, dass sich der Faden automatisch abwickelte, sobald ich mich bewegte.
„Oh, Mister Kara, das ist eine treffliche Idee!“, bemerkte der Captain erfreut.
Ich nickte lächelnd und wir schritten tiefer in die Halle hinein. Der Faden spannte sich und rollte sich wie geplant ab.
„O Sihdi, was ist das für ein Zauberding?“, fragte Halef.
Ich lachte. „Das ist kein Zauberding, sondern nur ein gewöhnlicher Wollfa...“ Aber was war das? Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Der gewöhnliche Wollfaden fluoreszierte und leuchtete in rötlichem Schimmer. Es wirkte, als wolle er uns den Rückweg weisen.
Halef war augenscheinlich besorgt. Er betete zu Allah, als gelte es, den Tod von uns abzuwenden.
„Was ist denn los, mein Freund? Der Faden erweist sich doch als durchaus nützlich. Er reflektiert das Leuchten des Gases und wir können somit den Rückweg nicht verfehlen.“
„Oh, das mag sein, Sihdi. Aber siehst du nicht den Zusammenhang? Du selbst hast mir die Geschichte doch erzählt. Von dem menschenfressenden Ungeheuer und dem Mädchen mit dem Faden. Ariadne hieß sie.“
„Was wäre so schlimm daran, wenn dies der Ariadnefaden wäre? Er würde uns auf jeden Fall heil hier herauslotsen.“
„Aber Sihdi, wenn es den Ariadnefaden gibt, so gibt es auch das Ungeheuer. Verstehst du das nicht?“
Ich legte Halef beruhigend die Hand auf die Schulter. „Sei unbesorgt, Halef. Ich glaube weder an das eine noch an das andere. In dieser Tiefe können nur wenige Kleinlebewesen existieren, aber keine größeren, die uns gefährlich werden können.“
Halef aber grummelte weiter vor sich hin, während wir uns auf den Weg durch das gewaltige Gewölbe machten. Und tatsächlich liefen uns bald einige Eidechsen über den Weg. Sie waren recht winzig, kaum größer als ein Finger. Das Besondere an ihnen war ihre Farbe. Sie leuchteten gänzlich weiß, schimmerten wie Perlmutt.
„Siehst du, Halef? Etwas Größeres wirst du kaum in Höhlen finden. Vielleicht noch den seltenen Grottenolm. Aber das bezweifle ich. Und all die kleinen Tierchen stellen für uns keine Gefahr dar.“
Mein Freund sah den davonhuschenden Tieren hinterher und wiegte skeptisch den Kopf.
„Und ich sage dir, Sihdi, dass du dieses Mal falsch liegst. Ich spüre, dass uns etwas Schreckliches erwartet.“
Was sollte ich darauf antworten? Gegen sein Gespür konnte ich nicht ankommen. Wir hatten zudem keine andere Wahl. Also schritten wir beherzt in die weite Halle hinein. Im Gegensatz zu meiner erwähnten Lektüre gab es hier keinen Ozean, der sich bis an den Rand unseres Sichtfelds ausbreitete. Doch wir kamen an einem Wasserfall vorbei. Er sprudelte aus einem Spalt mindestens hundert Meter über unseren Köpfen heraus und ergoss sich in ein Becken aus violetten und weißen Kristallen. Das kühle Nass war frisch und trinkbar. Wir erquickten uns daran und nutzten die Gelegenheit zu einer kleinen Rast, bei der wir etwas von den Speisen aßen, die uns Nikos mit auf den Weg gegeben hatte. Ich vermochte nicht zu sagen, wie lange wir schon unterwegs waren und welche Strecke wir zurückgelegt hatten. Die Zeit war hier unten ohne die Zeichen der Gestirne auf unbeschreibliche Weise ungreifbar.
Das Becken, auf dessen Rand wir uns niedergelassen hatten, sah aus wie eine gewaltige Geode, eine steinerne, oben offene Blase, gefüllt mit farbenprächtigen Amethysten. Djamila war so sehr fasziniert, dass sie gern einen der kleineren, lila gefärbten Kristalle daraus herausgebrochen hätte. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ließen sich diese hübschen, gleichmäßig geformten Mineralien nicht lösen.
„Da!“, hörte ich plötzlich Halef rufen. „Sihdi, siehst du? Es gibt sehr wohl größeres Leben hier unten.“ Halef hatte am Beckenrand gesessen und seine Füße im kristallklaren Wasser gekühlt. Nun hatte er sie hurtig herausgezogen. Ich blickte hinein und musste verwundert anerkennen, dass er Recht hatte. Im Wasser schwamm ein Schwarm Fische. Die Tiere waren nicht länger als mein Unterarm, von sehr bleicher Farbe und anscheinend besaßen sie keine Augen.
„Das müssen Höhlenfische sein. Siehst du, Halef, sie haben keine Augen, da sie diese in der Dunkelheit der Höhle nicht benötigen.“
„Aber Sihdi, hier ist es doch gar nicht dunkel.“
Da konnte ich nicht wiedersprechen. Das war schon recht sonderbar. Entweder waren die Fische aus einem anderen Teil der Höhle durch den Wasserfall hier hereingestürzt oder aus dem Abfluss hereingeschwommen, welcher sich unseren Blicken entzog. Möglicherweise war aber auch das Licht in dieser Höhle nicht von Dauer. Auch dieses Phänomen konnten wir nicht näher untersuchen, denn es galt, Lord Lindsay und seinen Freund Minos Kalokairinos zu finden. Also machten wir uns wieder auf den Weg. Wir kamen an Kammern vorbei, die wie kristalline Grotten mit bunten Edelsteinen ausgekleidet waren, an dunklen geheimnisvollen Gängen, die in die Tiefe führten, und an Stollen, in deren Wände Goldadern zu schimmern schienen. Doch nirgendwo in dieser phantastischen Welt fanden wir eine weitere Spur von den Gesuchten.
In einem weiteren Bereich traten wir unerwartet in ein Gewirr aus haushohen weißen Kristallstangen hinein. Es mutete an, als hätten Riesen mit überlangen glitzernden Eisstangen Mikado gespielt. Die baumstammgroßen Kristalle waren kreuz und quer ineinander verkeilt. Der Bereich füllte unser gesamtes Blickfeld aus und so nahm ich keine Möglichkeit wahr, diesen zu umrunden. Vorsichtig und zugleich beeindruckt kletterten wir deshalb über die Kristalle hinweg oder zwängten uns zwischen ihnen hindurch. Sie funkelten wie geschliffene Diamanten. Im Gegensatz zum Mikadospiel wackelten sie allerdings nicht und verharrten starr an ihrer Stelle. Wir waren wahrlich in einer unbeschreiblichen Welt gelandet und ich fragte mich unwillkürlich, ob dies tatsächlich real war oder ob wir in einem Traum gefangen waren. Die weißen Kristalle gingen schließlich in eine glatte Fläche über, als seien sie unter hohen Temperaturen geschmolzen, auf dem Boden zerflossen und schließlich wieder erstarrt. Ich hatte das Gefühl, auf Glas zu wandeln. Und als ich zu Boden blickte, sah ich Skelette in der transparenten Struktur eingeschlossen.
„Fossilien“, murmelte MacLean.
„Ja, das nehme ich auch an.“ Ich hockte mich nieder, um eins der Skelette durch die umschließende Glasur genauer zu betrachten.
„Fast wie das Skelett eines Elefanten. Nur sehr klein. Vielleicht ein sehr junges Tier“, spekulierte MacLean. Er hatte sich ebenfalls niedergehockt und betrachtete den Fund.
„Oder eine uralte Unterart, die sehr klein war. Denn sehen Sie, Captain, das Tier hatte lange, gut ausgebildete Stoßzähne.“
„In der Tat, Mister Kara. Es muss sich also um ein ausgewachsenes Tier handeln. Vermutlich prähistorisch.“
„Vielleicht ist es auch einfach nur eine Ziege, die von einem unterirdischen Ungeheuer gefressen wurde“, warf Halef ein.
„Hier gibt es noch mehr Knochen“, rief Djamila. Sie war schon ein paar Schritte vorausgeeilt. Die weißlich glänzende Fläche endete kurz hinter ihr. Allerdings auch die Höhle, denn eine steile graue Wand ragte an der Stelle auf. Ich fragte mich, wie oder wo unser Weg weiterführen sollte. In diesem Moment schrie das Mädchen auf. Ich blickte in ihre Richtung und sah sie flach auf dem Boden liegen. Wahrscheinlich war sie gestürzt, denn der Untergrund war glatt wie eine Eisfläche.
„Vorsicht!“, rief sie uns zu. Doch es war schon zu spät. Auch Halef, der ihr zur Hilfe eilen wollte, lag nun auf dem Boden. Beide versuchten sich mit den Fingern auf der glänzenden Fläche festzukrallen, und beide schienen von uns wegzurutschen. Jetzt bemerkte ich, dass das Terrain hinter ihnen abschüssig wurde und nach links in einen Gang hineinschwenkte. Der Captain warf sein Gepäck zu Boden und legte sich flach hin, wie man es auf einer Eisfläche tun würde, um sich gegen das Einbrechen zu schützen. Er versuchte nach Djamilas Händen zu greifen. Fast hätten sich ihre Finger berührt, doch ein Schrei von Halef lenkte das Mädchen ab. Mein Freund glitt immer schneller von uns weg und verschwand hinter einer Felswand. Sein Schrei gellte durch das Gewölbe. Djamila griff entsetzt in seine Richtung und wurde ebenfalls von der Schwerkraft erfasst und weggezogen. Selbst der Captain begann nun zu rutschen und krallte sich an seinem Rucksack fest. Doch es nützte ihm nichts. Er glitt in dieselbe Richtung wie Halef und Djamila. Ich warf mich ebenfalls auf den Boden, um den Captain zu erreichen, und sah, dass Haschim neben mir dasselbe tat. Aber auch wir gingen in die Falle. Der Untergrund war so glatt und mit einem Mal dermaßen abschüssig, dass es für uns kein Halten gab. Mit lautem Schreckensschrei sausten wir alle in einem dunklen Kanal abwärts. Das fluoreszierende Licht verschwand und undurchdringliche Dunkelheit umgab uns. Ich spürte, wie sich der schmale Schlund, der uns verschluckt hatte, in beständigen Kurven hinabschlängelte, und schließlich ging die rasante Talfahrt in einen freien Fall über. Der Boden war verschwunden. Ich fiel und wusste, dass es diesmal keine Rettung durch einen magischen Mantel geben konnte, da auch Haschim fiel. Feuchte kalte Luft schlug mir entgegen, sowie die Schreie meiner Freunde. Ich spannte meine Muskeln und erwartete einen harten Aufprall in unbekannter Tiefe.

Autor:

Jacqueline Montemurri aus Velbert-Neviges

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