Geheimnisse & Lügen ( Monolog eines alten Schauspielers)

Guten Abend, meine Damen und Herren.
Ja, ich bleibe noch einen Augenblick hier am Bühnenaufgang stehen, um mich an das Scheinwerferlicht zu gewöhnen. Oder vielleicht besser noch an Sie, die da unten im Zuschauerraum sitzen wie in einem Meer von Dunkelheit.
Ich jedenfalls hatte schon als Kind Angst vor der Dunkelheit. Diese Schwärze war für mich nicht nur anonym, sondern auch von bedrohlicher Aggressivität. Das konnte ich natürlich als Kind nicht so benennen - da haben Sie schon Recht.
So, jetzt habe ich mich aber an diese Lichtverhältnisse hier gewöhnt.
Nun nehme ich Sie auf eine ganz andere Weise wahr.
Vielleicht so wie ein Kurzsichtiger, der sich bei seiner neuen Brille wundert, was er bisher übersah. Und plötzlich bekommt die Dunkelheit für mich ihr Eigenleben zurück und das Licht verkehrt sich zu Schatten.
Und Sie, verehrtes Publicum, erinnern mich an Geister, die blitzartig aus der Dunkelheit auftauchen, um dann wieder zu verschwinden.
Übrigens, falls Sie mich fotografieren wollen, müssen Sie sich beeilen.
Obwohl, ich glaube die Hausordnung in diesem Theater verbietet das Fotografieren. Mir ist das egal. Ich wollte Ihnen nur sagen, alles, was Sie nicht sehen, macht gerade dieses Foto aus - falls Sie mich überhaupt fotografieren wollen.
Denn selbst mit der kürzesten Belichtungszeit, diesem Bruchteil einer Sekunde, der dem Zufall unterliegt, den wir so fürchten, werden Sie nicht das Bild einfangen, das mir entspricht. Denn mein Leben ist so unecht wie meine Bühnendarstellungen, obwohl ich, wie Sie sehen, in meinem Spiel hoch konzentriert auftrete.
Denn wissen Sie, in Wirklichkeit ist mein Kopf leer, selbst wenn ich meine Augenbrauen verziehe. Und das ist gut so.
Denn nur so habe ich in Gedanken Platz, um meine Geheimnisse und Lügen unterzubringen.
Und deshalb muß ich auch nie in die „Maske“, um plötzlich ganz anders auszusehen. Denn je nach meiner Rolle bewege ich mich nur anders.
Obwohl, so oder so sind meine Monologe immer zu lang, wenn man sich diese Monologe anhören muß ohne antworten zu können. Denn immerhin ist dieser Saal ausgefüllt von ihrem Atem.
Warum hat man uns eigentlich zusammengebracht?
Sie und mich.
Vermutlich liegt es an diesem Licht, dem wir nicht mehr entkommen wie einem Traum, der rätselhafte Bilder hinterlässt.
Und wenn diese Vorstellung zu Ende ist, dann bin ich mir sicher, dass wir, Sie und ich, uns die Augen reiben werden, als seien wir soeben erwacht.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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