Ein Bild - Eine Geschichte
Dornröschen ist tot?

Kay bog in Gedanken versunken in den Weg zum Park ab. Er hatte zum ersten Mal freiwillig ein Buch gelesen. Er hatte in dem Ramschladen nach einem Geschenk für seine Oma gesucht und in der Kiste mit alten Büchern gewühlt. Oma las gern. Immer wieder hatte sich das zerfledderte Ding in seine Hände geschmuggelt, als ob es ihm sagen wollte, bitte, nimm mich doch mit. Er hatte das Buch zusammen mit dem schnulzigen Liebesroman für Oma gekauft und dann im Rucksack vergessen. Bis heute. In der Freistunde hatte er es in die Hand genommen, ein wenig darin geblättert, und schließlich hatten seine Buchstaben ihn nicht mehr losgelassen. Es waren Grimms Märchen gewesen, und nun grübelte er, wie es sein konnte, dass jemand hundert Jahre lang schlief. Zauberei hin oder her, das war doch nicht möglich. Aber hieß es nicht auch, dass in diesen alten Geschichten ein Körnchen Wahrheit war? Wo steckte das Körnchen in Dornröschen?
Er erreichte den Park und stieß fast mit einem Fahrradfahrer zusammen, der sich im gleichen Moment durch den Eingang drängte. Kay schlurfte weiter, die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt. Er nahm kaum das frische Grün wahr, obwohl er den Frühling seit Wochen herbeigesehnt hatte. Seine Füße trugen ihn den gewohnten Weg nach Hause. An einem Abzweig hielt er inne. Er wollte noch nicht nach Hause gehen, Hausaufgaben machen, den Müll rausbringen und dem Gezeter seiner jüngeren Geschwister zuhören. Ihrem Geschrei konnte man kaum entkommen.
Er wollte noch ein wenig über Dornröschen nachdenken. Also bog er ab und ging den schmalen Weg entlang, der eher einem Trampelpfad glich. Die Brombeerranken waren dabei, sich den Grund zurückzuerobern. Immer wieder blieb Kay an ihnen hängen. Ob Dornröschen wirklich geschlafen hatte? Oder hatte sie wach gelegen und konnte sich nur nicht rühren? Das wären lange hundert Jahre gewesen. Kay schüttelte sich. Schrecklicher Gedanke, diese Langeweile. Und dann musste sie sich auch noch von einem Fremden küssen lassen. Er stieg über eine Brombeerranke, die queer über dem Weg lag. Und das ganze Drama nur, weil sie unbedingt die goldenen Teller aus dem Schrank holen mussten und dann nicht genug hatten. Echt bescheuert.
Er blieb abrupt stehen. Ein Zaun versperrte ihm den Weg. Alter Maschendraht, der von dem frischen Frühlingsgrün langsam erobert wurde. Er versuchte, einen Blick hinter die Büsche zu erhaschen, und erkannte die Ecke eines zerfallenen Hauses. Seine Neugier war geweckt. Er ging am Zaun entlang, bis er eine Lücke fand, und schlüpfte hindurch. In seinem Magen kribbelte es. Das war aufregend, hier war er noch nie gewesen. Er schaute zurück. Das Gebüsch wirkte wie eine Hecke. Vielleicht blühten im Sommer Rosen daran? Er grinste. Vielleicht fand er jetzt noch eine schlafende Prinzessin.
Er kämpfte sich durch das dichte Unterholz bis zum Haus. Das Dach war zum Teil eingestürzt, die Tür hing halb in den Angeln. Einzelne Latten fehlten in den hölzernen Fensterläden und ließen spärlich Licht ins Innere. Kay spähte durch einen Spalt. Im Halbdunkeln konnte er Laub auf dem Boden erkennen, ein Tier hatte in einer Ecke ein Nest gebaut. An der Wand stand ein Bett, und es sah aus, ob jemand darin lag. Er hielt den Atem an. Das bildete er sich bestimmt nur ein. Er wollte sich schon abwenden und zurückgehen, doch Neugier hielt ihn zurück. Es schadete bestimmt nicht, wenn er einen Blick hineinwarf. Er musste ja niemanden küssen. Er kicherte nervös, schlüpfte aber durch die schmale Türöffnung.
Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Er unterdrückte ein Würgen und ging langsam weiter. Es raschelte in einer Ecke, und er zuckte zusammen. Mann, war das unheimlich. Er fing zu schwitzen an, doch er wollte jetzt nicht klein beigeben. Nur ein Blick. Er erreichte das Bett. Vom vermoderten Kopfkissen grinste ihn ein Schädel an. Das Gerippe steckte noch in Stoffresten, die mal ein geblümtes Kleid gewesen waren. Vor Schreck entfuhr ihm ein Quieken. Er schlug die Hand vor den Mund. Er musste hier raus. Er drehte sich um und schrie auf. Vor ihm stand ein Mädchen, etwa sein Alter, eine Schultasche über der Schulter. Sein Herz raste. Verdammt, beinahe hätte er sich vor Schreck in die Hose gemacht. Sie schaute ihn amüsiert an, ging dann an ihm vorbei und legte den menschlichen Überresten einen kleinen Strauß mit Frühlingsblumen in die Hände.
„Ich besuche sie manchmal, weißt du?“
Kay starrte sie an. „Äh.“ Mehr brachte er nicht heraus.
„Meine Oma kannte sie als Gunda. Sie war eine Rumtreiberin, hat es nie lange irgendwo ausgehalten. Aber im Winter hat sie sich immer in diesem unbewohnten Haus verkrochen. Manchmal hat Oma ihr etwas zu Essen gebracht und sich ihre Geschichten angehört.“ Sie sah traurig zu der Toten. „Außer Oma hat sich anscheinend niemand für sie interessiert, und als sie starb, hat niemand sie vermisst.“
Kay räusperte sich. „Und deine Oma?“
„Ist vor acht Jahren gestorben, kurz nach meiner Einschulung.“ Sie seufzte. „Sie fehlt mir.“ Sie lächelte. „Und ihre Eierkuchen. Egal, was meine Mutter tut, sie bekommt sie einfach nicht so hin.“
„Da kannst du dich noch dran erinnern?“ Kay schüttelte ungläubig den Kopf.
„Aber ja, die gab es jeden Samstag, seit ich kauen konnte. Manche Dinge vergisst man nie.“ Sie sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Was machst du eigentlich hier?“
Kay wurde rot. Was sollte er jetzt sagen? Er konnte ja wohl schlecht erzählen, dass er auf der Suche nach Dornröschen war. „Äh, ich … also … Ich bin nur so rumgelaufen, und dann war der Weg zu Ende, und ich wollte nur einen kurzen Blick hineinwerfen.“ Er verstummte. Das klang auch in seinen Ohren lahm. „Ich muss jetzt auch los.“
„Kommst du wieder?“ Das Mädchen sah ihn fragend an.
Kay klappte den Mund auf und wieder zu.
„Sie freut sich über Besuch.“ Sie schaute zum Gerippe.
„Na ja, äh, ich weiß nicht.“ Kay wurde es langsam unheimlich. Mit der stimmte doch etwas nicht. Einem Gerippe war es egal, ob es Besuch bekam oder nicht.
„Überleg es dir.“ Das Mädchen streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Rose.“
Verblüfft griff Kay zu. Rose, wie Dornröschen? Kurz schüttelte er Roses warme Hand. „Mach ich.“ Er ging zurück zur Tür und drehte sich noch einmal zu Rose um. „Wie oft bist du hier?“
Rose lächelte, „Wir sehen uns nächsten Dienstag“, dann drehte sie sich zurück zum Gerippe und zupfte die Blumen zurecht.
Kay schluckte. „Okay.“ Er stieg durch die Tür, atmete tief durch und schüttelte dann den Kopf. Verrückt, er musste gerade eine Halluzination gehabt haben. Er schielte noch einmal durch die löchrigen Fensterläden und sah Rose vor dem alten Bett stehen. Doch nicht eingebildet. Er grinste. „Also dann bis Dienstag, Dornröschen.“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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