Ein Bild - Eine Geschichte
Neue Heimat

Sie ließen den Anker fallen. Erik stand am Bug und sah mit leuchtenden Augen die grünen Hänge hinauf. Er sah Wasser glitzern, während es sich in einem Sturzbach in die Bucht ergoss. Sie hatten diesen natürlichen Hafen gerade zur rechten Zeit gefunden. Die Wasservorräte gingen zur Neige und hier brauchten sie nicht nach Trinkwasser suchen, es floss ihnen entgegen.
Kjell trat zu ihm und schlug ihm lachend auf den Rücken. „Was für ein Glück! Das Land sieht fruchtbar aus, so viel herrliches Grün. Wasser gibt es zur Genüge. Der Wind ist frisch, aber nicht zu kalt.“ Er holte tief Luft und stieß sie schnaufend wieder aus. Sein Gesicht leuchtete hoffnungsfroh. Erik konnte es ihm nicht verdenken. Die Fahrt war lang und voller Entbehrungen gewesen. Sie waren erschöpft, abgemagert, einige krank. Die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung, die bei ihrer Abfahrt geherrscht hatte, war längst vergangen. Alle wollten endlich ankommen in einer neuen Heimat, in der es genug Platz für alle gab.
„Wir sollten hier nicht nur Wasser holen. Dieser Ort ist besser als alle, an denen wir bis jetzt geankert haben. Hier können wir uns ein neues Leben aufbauen.“ Kjell sah ihn fragend an und Erik nickte langsam.
„Wir sollten zumindest einige Tage hierbleiben und uns in Ruhe umschauen.“ Erik presste die Lippen zusammen. Er hatte ein ungutes Gefühl, er konnte nicht sagen, woher es kam und was es ihm sagen wollte. Kjell hatte Recht, diese Bucht kam dem nahe, was sie sich als neuen Siedlungsort vorgestellt hatten.
„Gut!“ Kjell schlug ihm noch einmal auf den Rücken und gab dann den Befehl, das zweite Beiboot zu Wasser zu lassen und die restlichen Vorräte und die Zeltplanen an Land zu bringen.
Erik kletterte als Erster in das Beiboot, das sie den Weg über im Schlepptau hinter sich hergezogen hatten. Es wurden Stoffbündel und Holzstangen für die Zelte zu ihm heruntergelassen und er nahm sie in Empfang. Die Stimmung war ausgelassen. Sie würden mehrfach zum Schiff zurückkehren müssen, um alle an Land zu bringen. Niemand wollte an Bord bleiben. Alle wollten endlich wieder festen Boden unter den Füßen spüren.
Erik eilte seiner Mannschaft voraus den Hügel hinauf, Kjell war ihm dicht auf den Fersen. Die hügelige Landschaft setzte sich fort. In nicht allzugroßer Entfernung konnten sie Wald erkennen.
Das Land war weiter, als Erik angenommen hatte, weit mehr als nur eine kleine Insel.
„Da, schau!“ Kjell zeigte aufgeregt zum Wald und Erik erkannte Tiere mit Geweihen, die das frische Gras abweideten. Kjell lachte beinahe hysterisch. „Es gibt Bäume und Tiere. Wir können Häuser bauen, und neben Fisch auch Fleisch auf dem Tisch bekommen, bis das Getreide und das Gemüse aufgegangen ist.“
Erik nickte, verzog seinen Mund zu einem breiten Lächeln. Wenn dieser Ort so perfekt war, wieso lebte hier dann niemand? Sollten sie wirklich die ersten Menschen sein, die ihn entdeckt hatten? „Es ist noch früh am Tag. Ein Teil von uns baut das Lager am Bach auf.“ Er zeigte auf das im Sonnenlicht glitzernde Band, das er schon von der Bucht aus gesehen hatte. „Der Rest kommt mit mir. Wir sehen uns im Wald um und erlegen einen dieser Grasfresser. Frisches Fleisch wird uns allen guttun.“

Die Grasfresser waren in den Wald geflüchtet, als sie sich ihnen genähert hatten. Erik und fünf seiner Männer folgten ihnen dichtauf. Ihr Blöken und das Knacken, als sie durch das Unterholz sprangen, war gut zu hören. Kjell schnaufte neben ihm. „Irgendwann müssen sie doch mal müde werden.“ Erik konnte nur grinsen. Zum Reden fehlte ihm der Atem. Er hatte nicht erwartet, dass sie leicht Beute machen würden.
Plötzlich weitete sich der Wald vor ihnen zu einer großen Lichtung. Einige zerfallene Holzhäuser waren zwischen den Büschen und Farnen zu erkennen. Die Bäume eroberten sich die Lichtung langsam zurück. Vorsichtig erkundeten sie die Hütten. Moos hatte das Holz überzogen und Pilze zersetzten es. Hier hatte schon seit einigen Jahren niemand mehr gelebt. In den Ruinen fanden sie zerbrochene Keramik, Reste von Stoffen und einige Möbelstücke. Alles sah aus, als ob die Bewohner ihre Siedlung in Eile verlassen hatten.
„Was ist hier geschehen?“
Erik konnte auf Kjells Frage nur stumm den Kopf schütteln. Sein ungutes Gefühl vertiefte sich. Etwas stimmte hier nicht. Ein langgezogenes Jaulen ertönte. Ein weiteres kam hinzu und dann noch mehr.
„Wölfe?“ Kjell hob seinen Speer.
Erik schüttelte den Kopf. „Was immer das ist, es ist kein Wolf. Und es hat diese Menschen von diesem Ort vertrieben.“ Er sah Kjell an. „Wir sammeln neue Vorräte ein, füllen die Wasserfässer und segeln weiter. Es wird rund um die Uhr Wache gehalten. Das Lager brechen wir ab, wir schlafen auf dem Schiff.“
Kjell ließ die Schultern hängen, nickte dann aber. „Es ist doch kein so guter Platz zum Siedeln.“
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Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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