Ein Bild - Eine Geschichte
Orakelsprüche

Ruven blieb schnaufend stehen. Er zog sein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nicht, dass es etwas nützte. Es war feucht, konnte kaum noch Schweiß aufnehmen, der ihm nach wie vor das Gesicht hinunterlief.
„Du musst die Götter um ihren Segen bitten“, hatte sein Vater gesagt. „Du kannst die Reise nicht antreten, ohne beim Orakel gewesen zu sein.“
Mürrisch schlurfte Ruven weiter. Er war müde, erschöpft und vor allem durstig und hungrig. Seinen Proviant hatte er schon längst aufgegessen und nun knurrte ihm der Magen. Er beschirmte seine Augen mit einer Hand. Hoch vor ihm ragte der heilige Berg Pilos auf. Auf seiner Spitze thronte der Tempel. Ruven grunzte ärgerlich. Warum wurden Tempel immer auf dem Berg gebaut, warum nicht an seinem Fuß? Ein Karren, von einem Esel gezogen, rumpelte an ihm vorbei. Ein Mann, der ebenfalls das Pilgerband am Arm trug, rempelte ihn an, als er an ihm vorbeihastete. Ruven wurde bewusst, dass, wenn er sich nicht beeilte, der Tempel schließen würde, bevor er an der Reihe war. Er hatte nicht vor in Kesena, dem Dorf, das sich um den Tempel gebildet hatte, zu übernachten. Sein Plan war, gleich nach dem Opfer den Heimweg anzutreten. Er legte einen Schritt zu. Sein Hemd klebte ihm am Rücken. Er holte seinen Wasserschlauch heraus und presste einen letzten Schluck Wasser aus ihm.

Ruven hatte keinen Blick für die goldgelb gestrichenen Häuser. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen, so trocken war sie. Die Menschenmenge um ihn herum wurde dichter, viele von ihnen strebten zum Berggipfel. Er machte kurz Halt an einem Brunnen und löschte seinen Durst. Ellenbogen rammten ihn, versuchten, ihn von der Wasserquelle zu verdrängen, doch er füllte seinen Wasserschlauch, bevor er sich weiter zum Tempelvorplatz treiben ließ. Die Sonne stand hoch am Himmel und es würde noch lange dauern, bis sie unterging. Er reihte sich in die Schlange ein. Sie war nicht ganz so lang, wie er befürchtet hatte, und seine Hoffnung stieg, dass er noch heute den Segen erhalten würde.
„Pitas, gefüllt mit Fleisch oder Käse, mit Kräutern und Oliven!“ Ein würziger Duft stieg ihm in die Nase und sein Magen zog sich unter lautem Knurren schmerzhaft zusammen. Er schaute sich nach der Ruferin um. Um den Platz herum gab es Geschäfte und Stände. Um sich dort etwas zu essen zu kaufen, müsste er die Schlange verlassen. Er schaute zurück, die Menschenreihe hinter ihm war schon ein gutes Stück gewachsen. Sein Magen knurrte wieder. „Na, da hat aber jemand mächtig Hunger!“ Er zuckte zusammen. Neben ihm war die Alte aufgetaucht, deren Stimme er eben gehört hatte.
„Ich nehme je zwei mit Käse und Fleisch.“ Er bezahlte sie und wickelte die noch warmen Pitas in das Tuch, in das er zuvor seinen Proviant verpackt hatte. Eine aß er sofort, während er sich langsam dem Tempel näherte.
Er überlegte gerade, ob er eine zweite Pita essen sollte, als die Erde unter ihm erzitterte. Gemurmel erhob sich unter den Wartenden. Es war nicht ungewöhnlich, aber kein gutes Zeichen. Die Götter hatten schlechte Laune. Ihm verging der Appetit. Hoffentlich war er nicht umsonst gekommen. Er musste seine Reise in zwei Tagen antreten, mit oder ohne Segen. Wieder erzitterte die Erde und einige der Wartenden verließen die Schlange.
Der Platz leerte sich, als auch die Ladenbesitzer ihre Geschäfte schlossen. Es wurde ruhiger, leiser auf dem Platz. Es sollte eigentlich eine Wohltat nach dem Lärm sein, doch die Ruhe war spannungsgeladen. Die Schlange verkürzte sich zusehends. Ruven zuckte mit den Schultern. Was auch immer das Orakel ihm sagen würde, es scherte ihn nicht. Er packte eine zweite Pita aus und begann zu essen.
Er verstand nicht, warum sein Vater so viel Wert auf diese alte Tradition legte. Er hatte ein gutes Schwert in seinem Gepäck und einen scharfen Dolch an seinem Gürtel. Das würde ihn mit Sicherheit besser schützen, wenn er die kostbaren Ballen aus feiner Seide nach Karpenis brachte, als ein Segen, für den er bezahlen musste.
Endlich erreichte er die Tempeltür. Er brachte sein Anliegen, die Frage, ob seine Reise gelingen und von Erfolg gekrönt sein würde, dem wartenden Priester vor und bezahlte die Gebühr für ein einfaches Ja oder Nein. Dann folgte er dem Mann in den Tempel hinein. In einem kleinen Raum sollte er warten, während der Priester durch eine bronzene Tür verschwand, um das Orakel zu befragen.
Wieder bebte die Erde, Risse zeigten sich an den Wänden und Staub rieselte von der Decke hinab. Ein Schrei ertönte hinter der Tür. Die Erde erzitterte erneut und Ruven wurde von den Füßen gerissen. Lautes Gebrüll ertönte hinter der Tür vermischt mit den verzweifelten, schmerzerfüllten Schreien einer Frau.
‚Ich muss hier raus!‘ Er rappelte sich hoch, die Decke gab hinter ihm nach und versperrte den Ausgang. Die Tür zum Orakelraum wurde aus den Angeln gerissen und Ruven sprang gerade rechtzeitig zu Seite, als sie an der Stelle landete, wo er eben noch gestanden hatte. Er rieb sich die Augen. Das konnte nicht sein, doch das Bild veränderte sich nicht. Inmitten des Orakelraums gähnte ein schwarzer Abgrund. Davor hockte ein Dämon. Rote Augen glühten in seinem schwarzen Gesicht, Rauch stieg von seinem schuppigen Leib auf. Ein Gestank nach faulen Eiern ging von ihm aus und raubte Ruven fast den Atem. In seinen Krallen hielt er ein Bein, neben ihm lag der restliche Körper des Orakels, der Bauch aufgerissen, mit herausquellenden Eingeweiden. Ruven wimmerte. Rasch stopfte er sich die Faust in den Mund, um den Laut zu ersticken, doch der Dämon hatte ihn gehört. Er ließ seine Mahlzeit fallen und stampfte langsam auf Ruven zu, Blut troff von seinen Zähnen. Sein fauliger Gestank eilte ihm voraus. Ruven tastete sich rückwärts, suchte nach einem Ausweg, doch der Dämon kam unerbittlich näher.
Klauen packten Ruven, gruben sich tief in sein Fleisch. Er spürte den heißen Atem in seinem Gesicht.
„Deine Reise wird nicht gut enden!“ Der Dämon grinste und entblößte dabei seine langen Zähne. Ruven schrie, versuchte, sich aus dem Griff des Dämons zu befreien, doch seine Krallen drangen nur noch tiefer in seinen Körper. Langsam schwanden ihm die Sinne. Sein Körper brannte wie Feuer, der Schmerz war schlimmer, als er ertragen konnte. Das Letzte, was er sah, war der schwarze Abgrund, in den ihn der Dämon mit sich in die Tiefe riss.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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