Ein Bild - Eine Geschichte
Pflücken auf eigene Gefahr

Zunehmend frustriert kämpfte sich Jago durch das Unterholz. Der Auftrag war ihm so lächerlich einfach erschienen. Eine Pflanze im Wald suchen und dafür zwanzig Gulden bekommen. Doch jetzt suchte er bereits den halben Tag danach und war noch keinen Schritt weitergekommen. Der kriechende Schleimwurz sollte in Baumhöhlen zu finden sein. Er hatte nun schon alle Baumstämme mit Löchern untersucht und war nicht fündig geworden.
Die alte Vettel, die ihm den Auftrag gegeben hatte, hatte einen fraghaften Ruf in der Stadt. In ihr schäbiges Haus am Stadtrand kam man nur, wenn man besondere Probleme hatte. Sie verkaufte ein wirksames Potenzmittel, er hatte sich selbst davon überzeugen können. Für volles Haar hatte sie ebenfalls eine passende Paste. Wenn man auf der Suche nach Entspannung war, wurde man bei ihr fündig, ebenso wenn man ein Mittel brauchte, um tagelang wach zu bleiben.
Zu ihren Kunden zählten einige wichtige Leute aus der Stadt und so blieb sie unbehelligt, obwohl hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, dass sie eine Hexe sei. Jago fühlte sich immer unwohl, wenn er bei ihr auftauchte, um etwas von dem Mittel zur Stärkung seiner Manneskraft zu kaufen. Aber er wollte die Kleine von der Schenke zum Bären nicht enttäuschen, wenn er sie wieder besuchte. Etwas war im Blick dieser unheimlichen Alten, etwas Lauerndes. Er hatte immer das Gefühl, dass sie ihm tief in die Seele blickte.
Bei seinem letzten Besuch war er knapp bei Kasse gewesen, sein Geld hatte nicht ganz gereicht, und sie hatte ihm den Deal angeboten. Er sollte die Pflanze für sie suchen und pflücken. Er würde dafür nicht nur das Potenzmittel, sondern auch noch 20 Gulden obendrauf bekommen. Es war ihm merkwürdig vorgekommen, warum suchte sie nicht selbst? Doch das Angebot war zu verlockend gewesen. Die 20 Gulden konnte er gut brauchen und würde Nala heute sogar ein Geschenk mitbringen können, wenn er nur diese verflixte Pflanze fand. Sie musste hier doch irgendwo sein!
Er wollte schon aufgeben, als sein Blick auf einen abgestorbenen Baum fiel. In seinem dicken Stamm klaffte ein großes Loch, sein Inneres lag im Schatten. Jago konnte nicht erkennen, was sich darin befand. Er ging davor in die Hocke. Noch immer konnte er nichts sehen. Er fühlte in das Loch hinein, ertastete verfaulende Blätter und etwas, das sich wie Knochen anfühlte. Rasch zog er die Hand wieder heraus und wischte sie sich angeekelt an der Hose ab. Er holte seinen Zunder und die Feuersteine aus der Tasche. In dem kurzen Aufflammen des Zunders konnte er an der dem Eingang gegenüber liegenden Wand eine Pflanze mit großen, fleischigen Blättern erkennen. Ranken krallten sich in das morsche Holz und schlängelten sich über den Boden. Grinsend ließ Jago den Zunder fallen, der zischend erlosch, und quetschte sich durch die Öffnung in den Stamm hinein. Hier war sie, die Pflanze, die ihm 20 Gulden und eine sehr befriedigende Nacht bescheren würde.
Langsam tastete er sich voran. Der Stamm war so breit, dass er komplett in ihn hineinkriechen musste, um zur Pflanze zu gelangen. Der modrige Geruch raubte ihm fast den Atem. Es waren nicht nur die verfaulenden Blätter. Es ging ein schwacher Verwesungsgeruch vom Boden aus oder kam er von der Pflanze vor ihm? Endlich ertasteten seine Finger die Blätter. Mit einer Hand umfasste er den Stiel, mit der anderen durchsuchte er seine Tasche nach seinem Messer. Er bekam kaum noch Luft und in der Dunkelheit hatte er das schreckliche Gefühl, dass der Baumstamm um ihn schrumpfte und ihn einschloss.
Bevor er das Messer hervorholen konnte, kroch eine der Ranken um sein Handgelenk. Es fing an zu brennen. Mit einem Aufschrei versuchte er sie abzustreifen. Doch sie hielt ihn fest. Nun rankten sich die Sprossen auch um seine Beine, fesselten ihn an den Boden. Er fühlte, wie sie den Stoff seiner Kleidung durchbrachen und in seine Haut eindrangen. Je mehr er sich wehrte, desto fester umschnürten sie ihn. Er schrie vor Schmerzen. Das Brennen drang immer tiefer in ihn und allmählich versagte seine Stimme, ließen seine Kräfte nach.
Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er ein Rascheln vor dem Baumstamm. Eine ihm nur allzu vertraute Stimme lachte gackernd und sagte dann in einem einschmeichelnden Tonfall. „So ist es gut, mein Schätzchen. Lass ihn dir schmecken.“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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