Kriegsgräberstätte in Polen
Schweigezeit - das Schweigen wird unüberhörbar laut

[b]Diese  Geschichte ist fiktiv, und doch hätte sie sich so abspielen können. Als ich bei meinem Besuch in Tschew in Polen war, besichtigten wir die im Wald befindliche Kriegsgräbertstätte. Dort waren in der NS Zeit  viele Menschen der damaligen Bevölkerung des Ortes hin getrieben und erschossen worden. Leider weiss ich  Ort und Namen nicht mehr.

 SCHWEIGEZEIT 

[/b]Die Zeit heilt alle Wunden, so sagt man. Ein Irrtum. Verschwiegenes ist wie ein Virus, der uns befällt und sich festsetzt. Wie ein riesiger Schatten nagt er an unserem Herzen, bindet in dunklen Nächten, dunklen Träumen. Ein Glauben an das Gute, das Licht. Es wird  geschwächt, denn das Geschehene ist unwiderruflich.
Ein zarter Beginn eines Frühlingstages in dieser kalten Gegend. Die Sonne blinzelt durch die Bäume am Straßenrand, die sich noch karg und unbelaubt zum Himmel recken. Gut so – denke ich. Ein gutes Wetter für unser Vorhaben. Ich beobachte Wojtek, wie er mühsam und angestrengt das Steuer hält. An seinen Händen wölben sich dicke blaue Adern, ebenso an seiner Schläfe. Er ist alt geworden, nein – wir sind alt geworden. Es ist unendlich lange her, dass wir in dieser Ortschaft waren.
Wir biegen ab und fahren durch einen dicht Laubwald. Kein Jogger, kein Fahrzeug. Kein Vogel zu hören. Schweigen, ein großes Schweigen kriecht aus der Erde, windet sich um die Bäume und durch das Geäst hinauf in den Frühlingshimmel.
Wojtek parkt den Wagen an einer Wetterhütte. Wir steigen aus. Das ist sie also, die Gedenkstätte für Kriegsopfer. Ein alter Mann fegt mit einem Reisigbesen die Wege. Ansonsten ist niemand zu sehen. Wir steigen die Stufen zu dem Mahnmal hinauf. Ich habe ein Blumengebinde in der Hand und lege es neben die wenigen Blumen und Kerzen.
Unfähig zu sprechen, gehen wir  an den großen Steinplatten im Wald entlang, Sie sind verwittert, moosbesetzt, ohne Aufschriften. Wie sollten sie auch… Keiner kannte die Namen, die Anzahl der Toten, als es bekannt wurde. Ihr Vergehen? Nur das eine! Sie waren Juden. - Kinder, alte Leute, Männer, Frauen … Wir stehen an einem Massengrab von unvorstellbaren Ausmaßen… Und sie ist eine von ihnen. Ihretwegen stehen wir hier.
Die Toten starren mich aus den Baumstämmen an, von überall her, und verbreiten sie ein kaltes Grauen. Ich würge die Übelkeit hinunter. Und das Gefühl, als könne ich jeden Augenblick im Boden versinken und mich ins Nichts auflösen.
Wojtek steht etwas abseits. Ihm muss es ähnlich gehen. Ich schließe die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken als an Tod und Vernichtung – und dann überfällt mich die Erinnerung und ich durchlebe das Ganze noch einmal.
Er hatte sie geliebt, mit Leidenschaft. Damals. Er hatte seine Ausbildung als Grundschullehrer abgeschlossen und ich erlernte den Haushalt bei einer reichen Familie auf einem Gutshof. Unsere Zukunft war sicher vorbereitet, im Einverständnis unserer Familien. Im nächsten Jahr wollten wir heiraten. Und dann brach etwas in unser Leben, dem wir hilflos ausgeliefert waren.
In seiner Klasse gab es einen hochbegabten Schüler, einen hübschen Knaben mit dem Schwarz der Galizier.
Wojtek versuchte, ihn auf eine weiterführende Schule zu vermitteln und bekam harte Absagen. Er sprach mit der Mutter darüber, mit Mascha. Sie war klein, zierlich und ebenso dunkel. Pechschwarzes Haar und tiefe dunkle Aguen fiel ihr auf die Schultern. Mascha wollte nicht, dass er sicugen gaben ihr das Flair wie einer Zigeunerin. In diesen Zeiten musste man vorsichtig sein, nichts durfte auffallen da Polen von den Deutschen besetzt wurde und immer Angst vor ihrer Willkür bestand. Sie gestand ihm, wie unsicher alles sei und Wojtek machte sich ernsthafte Sorgen.
Aber nicht nur das, denn Wojtek veränderte sich, war plötzlich ganz anders und geistesabwesend. Manchmal schaute er träumend aus dem Fenster. Wenn ich ihn ansprach, sah er mich verwirrt an. Belastete ihn die Arbeit? Nein, das war es nicht. Er hatte sich verliebt.
Mein Wojtek und eine andere Frau? Mascha., die er heimlich traf? Wenn von ihr die Rede war, leuchteten seine Augen.
Was sie taten oder redeten, weiß ich nicht, habe ich nie erfahren. Darüber redete Wojtek nicht. Mein Leben war bis dorthinsorglos in sicheren Bahnen verlaufen und nun konnte ich die Veränderung nicht fassen. Ich wollte mit ihm mein Leben teilen, eine Familie gründen! Ich war so sicher gewesen und nun fiel mien Leben in einen einem Abgrund, in eine tiefe Schlucht tosenden Wassers. Verzweifelt weinte ich, wurde dann hysterisch und eifersüchtig, bettelte dann um seine Liebe. Er versicherte, da wäre nichts. Ich wünschte mir, ihm glauben zu können, doch sah ich seinen Blick, verließ mich die Sicherheit.
Die Zeiten wurden härter. Die Deutschen gewannen in Allem die Oberhand. Juden wurde der Zugang zu Geschäften, zu Kirchen, zu Schulen verweht und nachts fuhren Militärtransporter durch die Straßen. Am nächsten Tag waren ganze Familien wie von Erdboden verschluckt. Keiner wusste genau, was mit ihnen passierte. Keiner fragte nach aus Angst vor eigenen Repressalien.
Fragte man laut, galt man als Feind oder Kollaboteur.
Man bekam keine Information, da jeder Angst hatte, etwas laut zu sagen, zu fragen. Wojtek wurde fast verrückt vor Angst um Mascha und den Jungen. Und dann fasste er einen irrwitzigen Plan. Da er als Lehrer ständig überwacht wurde, konnte er nicht helfen. So bat er mich, die beiden in dem großen Gutshof, auf dem ich arbeitete, zu verstecken. Nur, bis es vorbei sei… Es kann ja nicht mehr lange dauern - sagte er. Der Krieg gegen Hitler würde bald gewonnen sein. Das war zu viel. Ich litt unsagbar darunter, das Wojtek fremd ging und es leugnete. Und jetzt sollte ich, ich seine Angebetete verstecken? Ich sollte dafür sorgen, dass es ihr gut ging? Und was dann? Was war, wenn es vorbei war? Er machte es sich einfach! Gab mir die Verantwortung! Was verlangte er da von mir? Wie konnte er meine Liebe nur so ausnutzen! Entschieden sagte ich: - Nein! -
Doch in der nächsten durchwachten Nacht überlegte ich. Mein Gewissen wurde laut: Du darfst Menschen nicht im Stich lassen! Wer bist du denn, der du andere ins Unglück stürzen lässtt! Wütend auf Wojtek, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich betete intensiv, dass Gott eine andere Lösung finden sollte. Eine Lösung, mit der ich besser zu Recht kommen würde. Plötzlich merkte ich, wie schäbig das von mir war. Ich erschrak über mich selbst. Hatte ich Gott für mich selbst ausnutzen wollen, für meine Wünsche.?
Am nächsten Tag sagte ich Wojtek: - Also gut, ich mache es. - Ich hatte mich entschieden.
Wir brachten Mutter und Sohn in die Scheune auf den Heuschober, gaben ihnen Decken und Nahrung. Wir hielten sie inständig an, sich ruhig zu verhalten.
Ich konnte nicht mehr schlafen und schleppte mich durch den Tag. Meinen Arbeitgebern fiel auf, wie angespannt ich war. Ob sie merkten, dass ich oft in der Scheune zu tun hatte? - Sei vorsichtig – sagte Wojtek. Er war blass und aß nichts mehr. Seine Augen waren eingefallen. Mascha und ihr Sohn hockten im hintersten Teil der Scheune. Die Angst stand ihnen ins Gesichts geschrieben. Lange Stunden des Wartens zermürbten, tagein – tagaus. Sie lächelten nicht mehr.
Nachts kamen sie. Überall wurden Menschen aus den Betten gezerrt, auf Lastwagen gekarrt, gepfercht, über -, untereinander. In großer Furcht, mit weit aufgerissenen Augen drängten sie sich aneinander. Die Kinder weinten und schrien.
Sie kamen auch zum Gutshof. Warum? Ich wusste es nicht. Wer hatte sie verraten? Man konnte in der Zeit niemandem trauen. Alle hatten Angst. Keiner konnte zwischen Freund und Feind unterscheiden. Das Klima des Hasses regierte das gesamte Denken.
Die Reifen des Lastwagens quietschten, als er in den Hof einfuhr. Soldaten sprangen heraus., stampften auf mich zu, umringten mich bedrohend: - Wo sind sie? Verrückt vor Angst sagte ich ke9in Wort, aber schaute zur Scheune. - Aha! - Sie durchkämmten das Stroh, und fanden sie zusammengekauert. - Runter – Die Soldaten stießen sie vor sich her wie Vieh. Der Junge klammerte sich an seine Mutter. Ein Soldat zerrte sie auf die Ladefläche. Die Lastwagen fuhren in den nahe gelegenen Wald. Kurz darauf hörten wir die Schüsse.
Einen, zwei, tausende.
Es dröhnte in unseren Ohren. Die Zeit war stehen geblieben. Angehalten. Nichts bewegte sich . Eine Starre überkam jeden im Ort. Unfähig. Regungslos. Alles war leer, völlig leer. kalt, … Es gab keine Worte mehr. Es gab keine Gefühle mehr. Das Grauen war in ein Schweigen übergegangen.
Ich begann zu zittern. Das Zittern hörte nicht auf. Ich schluchzte laut, würgte und erbrach mich immer wieder.
Meine Beine versagten – Sie ist verrückt geworden. – sagten meine Arbeitgeber und brachten mich nach Hause, zu meiner Familie. Am nächsten Tag wurde eine Gruppe von Zwangsarbeitern in den Wald kommandiert. Mit Schaufeln…
Meine Mutter pflegte mich gesund.. Nach Monaten kam ich wieder auf die Beine. Und Wojtek? Er war nicht aufzufinden. Hatten sie ihn verhaftet? Ich habe es nie erfahren. Auch später sprach er niemals darüber. Nach langen bitteren Zeiten waren die Russen gekommen und Deutschland kapitulierte. Eines Tages, ich kann gar nicht mehr sagen, wann, kam Wojtek wieder. Er kam herein, sagte - Hallo – und dann sehr lange nichts… Wir sahen uns schweigend eine dunkle Ewigkeitan, dann drückte er leicht meinen Arm. Sprechen konnten wir nicht. Nie fiel ein Wort über das Geschehen. Wir wussten, dass wir damit leben mussten. Zwei Jahre später heirateten wir und zogen in eine ferne Gegend. Kinder hatten und wollten wir keine. Nach ein paar Jahren kauften wir ein Haus. Eine kleine Katze lief uns zu. Obwohl anfangs sehr scheu war, gewöhnte sie sich an uns und wurde zutraulich. Ich nannte sie Minka. Sie war ganz schwarz und zierlich, kokett und stolz – und manchmal, wenn ich „Minka“ rief, kam mir wie von selbst der Name „Mascha“ in den Sinn. Wojtek litt an Depressionen, aber er erholte sich und unser gemeinsames Leben, schweißte uns zusammen. Es war nie eine Leidenschaft, eher eine gute Freundschaft, wir kannten einander und hielten zusammen.
Jetzt stehen wir in dem bedrückenden Wald. Der alte Mann fegt mit regelmäßigen kurzen Strichen den Weg. Unter welchem der großen kalten Steine liegt begraben ist? Und ihr Sohn? Wojtek räuspert sich. Er dreht sich zu mir um. „Es ist nicht zu ändern…“ sagt er leise. „Es ist, wie es ist… und… und …“ es fällt ihm schwer. Noch leiser sagt er: „Verzeih.“ Ja, hauche ich: „Verzeih auch du.“
Mehr ist nicht möglich.
Ich werde ruhig. Eine heilsame Stille erfüllt mich. Aber loslassen, vergessen, kann ich nicht. Es wird ein Schweigen über all dem sein. Ein wissendes Schweigen. Und es wird ein Schweigen sein, unter dem ich mich beugen muss. Und manches … darf man auch nicht vergessen…
Als wir zurück fahren, sehe ich rechts und links am Waldesrand die ersten Buschwindröschen, kleine, weiße Kostbarkeiten in der noch schwachen Sonne. Sie lächeln mir zu und ich denke: - Vielleicht ist er doch nicht vergebens – der große Plan unseres kleinen Lebens. Wer weiß das schon …–
Ich werde ruhig.  Aber loslassen, vergessen, kann ich nicht. Es wird ein Schweigen über allem. Ein wissendes Schweigen. Und es wird ein Schweigen sein, unter dem ich mich beugen muss. Und manches … darf man auch nicht vergessen…
Als wir zurück fahren, sehe ich rechts und links am Waldesrand die ersten Buschwindröschen, kleine, weiße Kostbarkeiten in der noch schwachen Sonne. Sie lächeln mir zu und ich denke: - Vielleicht ist er doch nicht vergebens – der große Plan unseres kleinen Lebens. Wer weiß das schon …–
Ich bemerke, wie Wojtek sehr langsam und bedächtig den Wagen steuert. Er sollte nicht mehr Auto fahren, geht mir durch den Kopf. Seine angespannte Stirn ist etwas glatter geworden, aber er sieht müde aus. Mein alter Mann, denke ich liebevoll und lege meine Hand auf sein Knie.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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