Aufbau einer Diktatur ist keine innere Angelegenheit der Türkei

Zu dem Themenschwerpunkt "Situation in der Türkei" und den Demonstrationen in Köln am 30.7. und 31.7.16 entwickelte sich eine lebhafte Diskussion auf der Montagskundgebung.

Nach dem Singen der Eingangshymne leitete einer der Moderatoren die Debatte ein: "Am Sonntag demonstrierten ca. 40 000 Menschen gegen den gescheiterten Putsch in der Türkei und für Erdogan. Es gab auch Gegendemonstrationen, hier wurde der Aufzug von faschistischen Organisationen wie Pro NRW von der Polizei verboten, was sehr zu begrüßen ist. Am Samstag protestierte im Vorfeld ein Bündnis internationaler, klassenkämpferischer und antifaschistischen Organisationen und Einzelpersonen gegen die Errichtung einer faschistischen Diktatur in der Türkei. Darüber gibt es viel Diskussionsbedarf. Vielleicht waren einige von euch auch bei den Demonstrationen in Köln".

Eine Rednerin meldete sich: "Ich war am Samstag bei der bündnisweiten Demo. Ca. 600 Menschen protestierten friedlich, bunt und lautstark. Es gab kämpferische Redebeiträge u.a. von kurdischen und türkischen Organisationen, dem Frauenverband Courage, der Jugendorganisation Rebell und der MLPD. Hier wurde insbesondere der Ausnahmezustand in der Türkei, die Angriffe auf die Pressefreiheit und Medien sowie die Massenverhaftungen durch das Erdogan-Regime scharf verurteilt. Alle forderten den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Türkei, den Abzug der deutschen Truppen aus der Türkei und Aufkündigung des Flüchtlingsdeals mit dem Erdogan-Regime".

"Die Gegendemonstration war nicht gegen die vielen Menschen, die an dem Protest gegen den Putschversuch und für Erdogan teilnahmen. Sie verurteilte das Erdogan-Regime, das die eigenen Landsleute für den Aufbau einer Diktatur instrumentalisierte. Neben den Massenverhaftungen von Gegnern Erdogans wurden auch türkische Gewerkschaften angegriffen. Erdogan tritt die Menschenrechte im eigenen Land mit Füßen. Gleichzeitig bezeichnet der türkische Präsident das Verbot, nicht in einer Liveschaltung bei der Demo am 21.07. reden zu dürfen, als undemokratisch. Die Rede von Erdogan hätte zu einer Aufwiegelung der Menschenmassen geführt, außerdem kann er seinen Willen nicht Deutschland aufzwingen".

"Mit der "Säuberung" des Staatsapparates wurden rd. 55 000 Menschen aus lange vorbereiteten Listen aus dem Militär-, Staats- und Bildungswesen entfernt. Diese Listen gab es bereits vor dem Putsch. Für Erdogan war der Umsturzversuch eine Steilvorlage, um seine Macht auszubauen. Durch tatsächliche soziale Verbesserungen hat er einige Teile der Bevölkerung für seine Politik gewinnen können. Doch seine Anhänger wissen nicht, dass die Türkei auf eine faschistische Diktatur zusteuert. Das beweist die Zensur der Presse und Medien durch Erdogan und die Verhaftung vieler Reporter. Ein besonderer Skandal ist die Verhaftung eines Reporters, der aufgedeckt hat, dass die türkische Regierung Waffen an den IS geliefert hat", hieß es in dem Wort Beitrag eines Redners.

Ein Ausländer aus dem Publikum meldete sich: "Man kann nicht nur die Türkei anprangern, auch in vielen anderen Staaten gibt es Unrechtregime. Dafür kann die Bevölkerung der jeweiligen Staaten nicht verantwortlich gemacht werden. Vielmehr versucht das internationale Kapital, immer mehr Einfluss auf Länder zu gewinnen, um sie auszubeuten bzw. geht es auch um Rohstoffe. Darum werden Diktatoren durch die Konzerne finanziell unterstützt. Die Menschen, gleich welcher Rasse oder Hautfarbe, müssen zusammenhalten und gegen diese Mächtigen gemeinsam kämpfen."

Mitten in der fortlaufenden Diskussion forderte ein anderer Ausländer lautstark: "Was gehen euch die inneren Angelegenheiten der Türkei an? Besonders die westliche Presse verteufelt die Türkei. Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten und lasst die Türkei aus dem Spiel!"

Ein Redner entgegnete: "Die jetzige Entwicklung in der Türkei kann nicht von uns ignoriert werden. Sie ist auch keine innere Angelegenheit der Türkei. Wenn die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll, Pressefreiheit ausgehebelt wird und Gewerkschaften angegriffen werden, ist internationale Solidarität gefragt. Viele internationale Konzerne haben Standorte oder ganze Werke in der Türkei und machen dann auch Druck auf europäische bzw. deutsche Gewerkschaften. Ebenfalls versucht das Regime Erdogan, eigene Landsleute, die in Deutschland leben, einzuschüchtern. Das nehmen wir nicht hin."

"Und was ist mit dem Ausnahmezustand in Frankreich? Was mit der Todesstrafe in den USA? Was mit dem Einmarsch der NATO-Truppen in Afghanistan? Was mit dem Bombardement der USA auf den Irak? Niemand berichtet von den Massakern an den Palästinensern! Protestiert ihr auch dagegen?", schrie dieser Mann dazwischen.

"All diese Themen, die Sie angesprochen haben, wurden bereits bei uns diskutiert. Wir verurteilten die Intervention der USA in den Irak ebenso wie den Einmarsch der NATO-Truppen in Afghanistan oder die Aggression Israels gegen die Palästinenser. Die Lage in der Türkei ist jetzt der aktuelle Schwerpunkt. Wir können nicht schweigend zusehen, wie sich dort eine Diktatur aufbaut".

"Allein schon die Erpressung Erdogans, das Flüchtlingsabkommen zu kündigen, wenn die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige in Deutschland nicht abgeschafft wird, beweist seine diktatorische Einstellung", meinte eine Rednerin, "wir lehnen diesen Flüchtlingsdeal ohnehin ab. Wir fordern seit langem die Einrichtung von legalen sicheren Fluchtwegen, damit nicht erneut Tausende im Mittelmeer ertrinken müssen.

"Wichtig ist außerdem, die Ursachen für die Flucht von zahlreichen Menschen aus ihren Heimatländern anzuprangern und eine internationale Solidarität aufzubauen, damit den Monopolen, die viele Länder durch Raubbau von Rohstoffen und Zerstörung der Natur unbewohnbar machen, endlich das Handwerk zu legen", hieß es in einer weiteren Wortmeldung.

Der aggressiv wirkende Befürworter von Erdogan verließ darauf die Montagskundgebung.

Nachfolgend gab es noch einige Redebeiträge, u.a. über die heuchlerische Politik Merkels mit der Türkei. Es war Konsens, dass die diplomatischen Beziehungen mit der Türkei abgebrochen werden müssen, alle deutschen Truppen aus der Türkei abzuziehen sind, keine Waffen mehr an die Türkei zu liefern sind und auch die EU-Finanzhilfen für die Türkei einzustellen sind.

Der Moderator informierte dann über die Organisation der Fahrt zur Herbstdemo in Berlin am 01.10.16. Anmeldungen sind ab sofort möglich. Die Fahrpreise: 10,00 Euro/Sozialtarif, 30,00 Euro Normaltarif und ab 40,00 Euro Solidaritätstarif.

Zum Abschluss der Kundgebung wurde nicht die Hymne gesungen. Stattdessen spielte ein zufällig anwesendes Künstlerduo (Viviane Stern, Sängerin und Marvin Jütte, Gitarrist) ein eigenkomponiertes Lied (Ballade) über die Völkerverständigung. Die Begeisterung war so groß, dass die Künstler eine Zugabe geben mussten. Selbstverständlich wurden sie zur 12-Jahresfeier der Bochumer Montagsdemo herzlich eingeladen.

Auf der nächsten Montagskundgebung am 15.08.16 stehen der Antikriegstag, die Vorbereitung der 12-Jahresfeier der Montagsdemo am 29.08.16 und die beschlossenen Neuregelungen zu Hartz IV auf der Agenda.

Ulrich Achenbach
Moderator

Autor:

Ulrich Achenbach aus Bochum

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