Das Arzt Mobil und die Streetworkerinnen des Vereins Arzt Mobil sind trotz Pandemie im Einsatz
Zuhause auf der Straße

Corona-konform ausgerüstet suchen die Streetworkerinnen wie hier in Horst auf dem Josef-Büscher-Platz die Orte auf, an denen sich ihre Klienten treffen. Foto: Gerd Kaemper
  • Corona-konform ausgerüstet suchen die Streetworkerinnen wie hier in Horst auf dem Josef-Büscher-Platz die Orte auf, an denen sich ihre Klienten treffen. Foto: Gerd Kaemper
  • hochgeladen von silke sobotta

"Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht die Nähe zu den Menschen. Nähe zu Menschen, zu denen auch ohne Zeiten von Corona die meisten Abstand halten und für die nicht jeder Verständnis hat", beschreibt Streetworkerin Vanessa Beckmann die Arbeit des Vereins Arzt Mobil.

Laut Corona-Schutzverordnung des Landes NRW dürfen sich derzeit maximal Mitglieder eines Haushaltes und eine weitere Person im öffentlichen Raum, also draußen, treffen. Doch für einige Bürger ist der Haushalt nicht der Lebensmittelpunkt, sondern die Straße.
"Verbunden wird das meist mit Menschen, die wohnungs- oder obdachlos sind, es sind aber auch diejenigen, die in der Mehrheitsgesellschaft keinen Anschluss finden, wie Suchtmittelabhängige", erläutert Beckmann. "Soziale Kontakte werden auf der Straße, in der Szene, gesucht. Es ist die Unverbindlichkeit der Straße, die Akzeptanz trotz des Drogenkonsums und das Bedürfnis nach Gesellschaft, welches Einzelne zu einer Gruppe werden lässt. Diese Menschen würden sich alle als einen großen Haushalt betrachten, denn sie erfahren beieinander Anerkennung, werden aufgenommen und stehen füreinander ein. Und entsprechend suchen sie einander."
Viele dieser Menschen müssen jeden Tag, 365 Tage im Jahr, zur Substitution in eine Methadonausgabestelle. Sie erhalten ein Ersatzmittel, um dem Heroinkonsum entgegen zu wirken. Doch dort bekommen sie nicht nur ihr Substitut, sondern treffen auch diejenigen, mit denen sie sich als Gemeinschaft verstehen.
"Es ist leicht mit Unwissenheit zu fordern, dass diese Menschen anschließend zurück in ihre Wohnungen kehren sollen – sofern sie welche haben. Dabei wird übersehen, warum die Straße derart wichtig für die Menschen ist", beschreibt die Streetworkerin die Problematik.
Sie beklagt, dass kaum Alternativen geboten werden, um diese wichtigen Bedürfnisse aufzufangen. Denn nicht nur, dass der Großteil der Gesellschaft diese Einstellung teilt, jetzt gibt es aufgrund der Corona-Pandemie sogar die ausdrückliche Empfehlung zuhause zu bleiben. Das neue Motto „Zuhause bleiben“ funktioniert aber eben nicht für diesen bestimmten Teil der Gesellschaft. Und ist es, als gehörten sie nicht dazu.
Ein geschützter Rahmen ist die Straße nicht und das wissen sie auch. Dennoch treffen sich die Menschen in ihrer Szene, weil sie dort Halt finden. Durch die aktuellen Kontaktbeschränkungen entsteht ein weiteres Dilemma. Entweder begibt man sich in die Einsamkeit und flüchtet womöglich zurück in vermehrten Konsum oder man nimmt in Kauf von Ordnungsbehörden kontrolliert und mit Geldstrafen sanktioniert zu werden. Die Szene versucht sich auf Plätze oder Parks zu verteilen. Problematisch ist aber, dass die Betroffenen dabei Alkohol konsumieren. Die dann eventuell fälligen Strafen sind für die Klienten nicht bezahlbar.
"Dennoch wird weiterhin kein zusätzlicher Raum geschaffen, um auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe einzugehen – vielmehr werden aktuell bestehende Räumlichkeiten aufgrund der Corona-Verordnungen geschlossen, anstatt diese zu erweitern. Man nimmt also genau denjenigen, die bereits abseits der Gesellschaft leben, die Struktur und eine, zumindest zeitweise, geschützte Umgebung", beklagt die Streetworkerin. "Ein Sandwich „To Go“ ist dabei nicht das Gleiche, wie eine warme Mahlzeit in einem beheizten Raum. Dies ist insbesondere für wohnungslose Personen wichtig, für die genau diese Momente die einzigen Ruhezeiten innerhalb ihres Tages waren."
Wenn der Bedürftige nun auch noch in Quarantäne muss oder zur Risikogruppe zählt, stellt sich die Frage: „Wer ist zuständig?“ und „Wer versorgt wie und wo diese Menschen?“ Das sind die Themen, mit denen sich die Klientel beschäftigt, die die Streetworkerinnen und Ärztin von Arzt Mobil aufsuchen und mit denen sie sich dementsprechend tagtäglich auseinander setzen müssen.
"Wenn sich die Strukturen bei der Klientel verändern, verändert sich auch unsere Arbeit als Streetworkerin und auch als Ärztin. Die Szenen bilden einzelne Grüppchen, verteilen sich auf die weit auseinanderstehenden Bänke, Masken hängen mal unter dem Kinn, mal unter der Nase. Die Bänder sind schon wieder ausgeleiert, der Mund-Nasen-Schutz hält nicht mehr. Während sonst die Ausgabe von sterilem Spritzbesteck im Vordergrund stand, ist jetzt die Frage: „Habt ihr Desinfektionsmittel und noch eine Maske?“ zum Standard geworden", berichtet Vanessa Beckmann.
In den letzten Monaten wurde vieles neu durchdacht und anders gestaltet. Es braucht ein hohes Maß an Flexibilität, Kreativität und Anpassungsbereitschaft der Streetworkerinnen, um in dieser Zeit weiterhin nah am Menschen arbeiten zu können. Menschen in persönlichen Gesprächen auf Distanz zu halten, kann anstrengend und irritierend sein.
"Um nicht ständig das Gespräch unterbrechen zu müssen, um an den Abstand zu erinnern, haben wir gebastelt. Jetzt halten wir ein kleines Schildchen mit einem lächelnden selbst gestalteten Virus hoch, das noch einmal an die Abstandsregel erinnert. Unsere Klienten nehmen das mit Humor", schildert die Sozialarbeiterin. "Es wurden neue Routinen bei der Safer-Use Vergabe eingeführt und dank großzügiger Unterstützer können wir fast immer mit neuen Gesichtsmasken dienen. Auf diese Weise versuchen wir unser Motto „mit Abstand am nächsten dran“ umzusetzen, um weiterhin in erster Linie für unsere Klienten da zu sein."
Nichtsdestotrotz bleiben viele Fragen ungeklärt. Das Team des Vereins Arzt Mobil sieht es als seine Aufgabe, auf die Missstände, die die Pandemie gerade sehr deutlich macht, aufmerksam zu machen und sich für die Bedürfnisse ihrer Klientel einzusetzen.

Autor:

Lokalkompass Gelsenkirchen aus Gelsenkirchen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

24 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.